Polarisierung in Chile: Jung-Sozialist fordert Nazi-Sohn heraus

aus Rio de Janeiro Tobias Käufer
Stimmen die Umfragen, dann darf sich das chilenische Wahlvolk am Sonntag auf einen spannungsgeladenen Abend freuen. Denn sowohl der junge Sozialist Gabriel Boric (35) als auch der Konservative Jose Antonio Kast (55) liegen Umfragen zufolge bei der Präsidentenstichwahl gleich auf, wenngleich die Demoskopen Boric leicht vorne sehen. Im ersten Wahlgang kam Kast von der rechtsnationalistischen Partido Republicano auf 28 Prozent der Stimmen, der Linkspolitiker Gabriel Boric vom kommunistisch-sozialistische Bündnis Apruebo Dignidad erreichte 25 Prozent.
Tod dem Neoliberalismus?
Das Votum ist eine Richtungsentscheidung, wie sie markanter kaum sein kann. Es geht um eine sozialistische oder eine marktwirtschaftliche Wirtschaftspolitik, um eine Entscheidung zwischen konservativer oder progressiver Gesellschaftspolitik und auch darum, ob Junge oder die etwas Älteren das Land führen sollen. Es geht darum, ob die für die global angestrebte E-Mobilität so wichtigen Lithium-Vorkommen, die für Akkus gebraucht werden, privatwirtschaftlich oder von Staatsunternehmen kommerzialisiert werden.

Der Vater von Antonio Kast war bei der NSDAP.
Während Kast von seinen Kritikern bisweilen als Faschist, neoliberaler Alt-Konservativer oder "chilenischer Bolsonaro" bezeichnet wird, werfen die Gegner dem ehemaligen Studentenführer Boric vor, ein Linkspopulist zu sein, der ein Wirtschaftsmodell nach kubanischem oder venezolanischem Vorbild etablieren wolle. Und der 35-Jährige befeuert solche Projektionen selbst: Unter ihm werde Chile das "Grab des Neoliberalismus" werden, versprach Boric. Kast dagegen spricht von der "Freiheit des Marktes". Viel gegensätzlicher können sich die Lager nicht gegenüberstehen.
Kast muss sich dem Vorwurf stellen, die eigene Familiengeschichte nicht richtig dargestellt zu haben. Entgegen der eigenen Erzählung war Kasts Vater nicht nur in der Wehrmacht, sondern offenbar auch in der NSDAP aktiv. Die Familie war in den 1950er-Jahren nach Chile ausgewandert. Kasts unvollständige Darstellung über die Geschichte seines Vaters verschafft ihm ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Klare Linie
Boric distanziert sich von Menschenrechtsverletzungen der umstrittenen Linksregierungen in Kuba, Venezuela und Nicaragua – anders als die ältere Generation von Linkspolitikern in Lateinamerika, wie Ex-Präsidentin und Vizepräsidentin Cristina Kirchner in Argentinien oder Ex-Präsident Lula das Silva in Brasilien.

Gabriel Boric könnte Südamerikas neuer linker Star werden.
Diese klare Kante im sozialistischen Lager ist ungewöhnlich und brachte Boric in der Mitte des politischen Spektrums Respekt und Anerkennung ein. Boric könnte im Falle eines Wahlsieges damit zu einen neuen Typ Linkspolitiker avancieren, der sich von der Generation des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" löst, zu der Kirchner und Lula zählen.
Der Linke verspricht einen demokratischen Sozialismus. Er verurteilte die jüngsten Inhaftierung von Präsidentschaftskandidaten in Nicaragua, den Umgang Kubas mit den Sozialprotesten, deren Köpfe vor Gericht gestellt oder zur Ausreise gezwungen wurden, oder Menschenrechtsverletzungen in Venezuela. Setzt sich Boric bei den Wahlen durch und behält er dann diesen Kurs bei, könnte er mit diesen Ansichten zu einer Art neuer moralischer Instanz des lateinamerikanischen Sozialismus aufsteigen.
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