„Sonst wähle ich konservativ, aber nicht so lange es keinen integren Parteichef gibt“, erklärt Ruth im Londoner Stadtteil Wandsworth, warum ein Denkzettel nötig war. Herbe Verluste und so manche symbolische Watschen kassierten Premier Boris Johnson und seine Tories bei den britischen Kommunalwahlen.
Und das, obwohl Partei-Aktivisten vor den Bezirks- und Gemeinderatswahlen in England, Schottland und Wales betont hatten: „Boris steht nicht auf dem Stimmzettel“. So wollten sie sich von Skandalen wie der Partygate-Affäre um Lockdown-Feiern und mangelnde Hilfe für Inflationsgeplagte distanzieren.
Dennoch verlor die Partei in der Hauptstadt, wo Johnson lange Bürgermeister war, drei Hochburgen an Labour – Wandsworth, Westminster, wo der Premier dank Regierungssitz selbst wählt, und Barnet.
Obwohl der Fokus auf lokalen Themen wie Müllabfuhr und Verkehr lag, war der Urnengang als erste große Wahl seit Partygate ein wichtiger Stimmungstest für Johnson. Wie sehr seine Position weiter geschwächt wird, hängt von den Endergebnissen ab – und wie Kollegen diese lesen.
Opposition im Aufwind
Denn auch wenn der Premier seit Längerem unter Druck steht, genoss er bisher den Ruf als Wahlsieger. Wenn sich Zweifel an Johnsons Zugkraft bei der nächsten Parlamentswahl mehren, könnten ihm weitere Misstrauensbriefe seiner Unterhaus-Mandatare und eine fraktionsinterne Abstimmung über seine Zukunft drohen. Hochrangige Tories stellten sich aber hinter ihren Chef.
Dieser gestand eine „harte Nacht in manchen Landesteilen“ ein. Manche Tory-Lokalpolitiker gaben ihm die Schuld für ihre Niederlagen, einer forderte sogar seinen Rücktritt; andere sprachen von einem „Warnschuss“ der Wähler.
Labour-Chef Keir Starmer sah dagegen einen „Wendepunkt“ für seine Partei. Experten treten auf die Bremse: Labour sei nach 12 Jahren Opposition „nicht unbedingt auf Siegeskurs bei der nächsten Wahl“, meinte Wahlforscher John Curtice. „Die Partei hat noch viel Arbeit vor sich“.
Die kleineren Liberaldemokraten konnten sich – Stand Freitagabend – sogar über mehr Mandatsgewinne als Labour freuen. Die BBC nannte die Wahlen in England eine „Abfuhr“, aber keine Katastrophe für die Tories.
Starke Separatisten
Ganz anders könnte das in Schottland aussehen. Dort musste die regierende Unabhängigkeitspartei die Ablöse durch Labour befürchten.
Kopfschmerzen drohen Johnson auch nach den Wahlen zum nordirischen Parlament: Dort galt als wahrscheinlich, dass die katholische Sinn Fein, die für die Vereinigung mit Irland eintritt, stärkste Partei wird.
Erstmals wäre, wie in Schottland, eine von London fortstrebende Partei stärkste Kraft. In der ehemaligen Bürgerkriegsprovinz sieht der Friedensvertrag von 1998 eigentlich eine Koalition der stärksten pro-britischen und der stärksten pro-irischen Partei vor. Die aber klappt seit Jahren nicht.
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