Der nächste Feind heißt Winter

Die Zerstörungen in Slowjansk
Die Kämpfe machten 260.000 Menschen in der Ukraine zu Flüchtlingen. Ihre Lage ist verzweifelt.

Wer geschossen hat? Ljubaw Nasarjewa ist das egal: "Was weiß ich? Die von links nach rechts, und die von rechts nach links." Wer immer die Granate abfeuerte, ob die Soldaten der ukrainischen Armee oder die pro-russischen Rebellen – getroffen wurde das Waisenheim, das Nasarjewa seit mehr als zwanzig Jahren führt. Der hintere Flügel des Gebäudes liegt in Schutt und Trümmern.

Wären die Kinder da gewesen, schildert die Heimleiterin unter Tränen, "nicht auszudenken, wie viele umgekommen wären." So aber hatten die 40 ukrainischen Waisen Glück inmitten des riesigen Unglücks namens Krieg, der im Sommer ihre Heimstadt Slowjansk überrollte: Die Kinder waren gerade auf Ferienlager.

An eine baldige Rückkehr ist nicht zu denken. Während sich im Heim "Topoljok" noch immer die Trümmer stapeln, werden in einigen Nachbarhäusern bereits Dächer neu gedeckt, Fensterscheiben ausgetauscht, eingeschossene Mauern neu hochgezogen.

Auch das Haus von Natalia Cernjakova und ihrem Mann bekommt dieser Tage – mithilfe der Caritas – neue Fensterstöcke. Mit ihrer Pension von umgerechnet knapp hundert Euro im Monat hätte das Pensionistenpaar keine Scheiben kaufen können. Und an heizen ist für die beiden sowieso nicht zu denken: Kein Geld für Brennmaterial, kaum genug zum Essen. Tagelang hatten sich die beiden vor den Kämpfen in den Gärten der Nachbarn versteckt. Jetzt sind sie zurück – und finden dennoch keine Ruhe. "Wir haben noch immer Angst", seufzt Cernjakova. Dass der Krieg nun vorbei sein soll, dass nicht wieder von irgendwo Schüsse auf ihr Haus niedergehen, will das ältere Paar nicht so recht glauben.

Noch immer Kämpfe

Der nächste Feind heißt Winter
Ostukraine, Kharkiv, Flüchtlinge, Nathalia und ihre Tochter Dorina (2)
Seit knapp drei Wochen gilt in den Kampfgebieten derOstukraineoffiziell ein Waffenstillstand. Doch für die wenigsten der rund 260.000 Binnenflüchtlinge in der Ukraine fühlt sich das auch so an. "Ich würde lieber heute als morgen nach Hause gehen", sagt Nathalia. Vor drei Monaten flüchtete die junge Mutter mit ihrer zweijährigen Tochter vor den Kämpfen aus ihrer Heimatstadt Donezk. Unterkunft fand sie zusammen mit 300 anderen Flüchtlingen in einem ehemaligen Pionierlager in den Wäldern nahe Charkiw.

Hier sei sie zwar in Sicherheit, erzählt die 32-Jährige, doch die ständige Angst nagt an ihr. "Fünf bis sechs Mal am Tag" telefoniere sie mit ihrer 17-jährigen Tochter, die in Donezk zurückbleiben musste, um die sterbenskranke Großmutter zu pflegen. "Waffenstillstand?", stößt Nathalia bitter hervor, "dass ich nicht lache. Wie oft, wenn ich mit meiner Tochter rede, höre ich durch das Telefon Schüsse oder den Einschlag von Granaten? Wir wohnen in der Nähe des Flughafens von Donezk, und um den wird nach wie vor gekämpft."

Nur wegen ihrer kleinen Darina bleibe sie noch hier im einstigen Ferienlager, sagt Nathalia. Dank Lebensmittelspenden gibt es genug zu essen. "Aber die Kälte ist unerträglich."

"Immer ist uns kalt"

Heizmöglichkeiten gibt es in der für Sommerurlaube ausgerichteten Anlage keine. Die Feuchtigkeit hat sich tief in die Mauern der altersschwachen Häuser gefressen. In ihrem Bett, im Zimmer, draußen, drinnen – "immer ist uns kalt", kämpft Nathalia gegen die Tränen.

Der nächste Feind heißt Winter
Tausende Ukrainer, die im Sommer über Nacht aus ihren umkämpften Dörfern oder Städten flohen, befinden sich in einer ähnlich verzweifelten Lage. Der harte ukrainische Winter steht vor der Tür. Viele Flüchtlinge aber konnten nur in Ferienlagern untergebracht werden, in ungeheizten Hallen oder in verlassenen Gebäuden. "Erst jetzt", wo die Temperaturen täglich ein bisschen tiefer sinken, "entsteht das Bewusstsein, dass es hier eine humanitäre Katastrophe gibt", sagt der Chef der Caritas Ukraine, Andrij Waskowycz. "Unser Ziel muss es sein, den Menschen zumindest ein warmes Zimmer pro Wohnung zu ermöglichen."

Drüben, jenseits unzähliger Straßensperren, wo schwer bewaffnete Soldaten jeden Passanten kontrollieren und wo die pro-russischen Rebellen das Sagen haben, sieht es nicht anders aus. "Die Hälfte der Bewohner hat Lugansk verlassen", erzählt Sozialarbeiterin Vera. Gekämpft werde nicht mehr, mittlerweile funktionierten sogar wieder zwei Drittel der Strom- und Wasserversorgung. "Aber keiner von uns vertraut darauf, dass die Kämpfe endgültig vorbei sind." Anfang September hat die sogenannte "Regierung der Volksrepublik Lugansk", die mit der Führung in Kiew nichts mehr zu tun haben möchte, in der Stadt die Kontrolle übernommen. Wie die Menschen in Lugansk damit leben, beantwortet Vera ausweichend: "Bestimmte Leute akzeptieren die neue Macht. Manche nicht – aber dann spricht man nicht darüber."

Eindrücke aus der Ostukraine

Der nächste Feind heißt Winter

Ostukraine, Slawiansk, Kinderheim…
Der nächste Feind heißt Winter

Slawiansk, Ostukraine, Kinderheim…
Der nächste Feind heißt Winter

Ostukraine, Slawiansk, Kinderheim…
Der nächste Feind heißt Winter

Ostukraine, Slawiansk…
Der nächste Feind heißt Winter

Ostukraine, Flüchtlinge, Kharkiv…
Der nächste Feind heißt Winter

Ostukraine, Vera aus Lugansk, Sozialer Hilfsdienst…

Seit die pro-russische Rebellen aus dem umkämpften Slowjansk abzogen, sind bereits 20.000 Flüchtlinge wieder in ihre ostukrainische Heimatstadt zurückgekehrt. Doch gerettet sind sie längst noch nicht: Durch die Druckwellen während des Granatenbeschusses gingen in der Stadt 155.000 Fensterglas zu Bruch. In den Nächten kühlt es bereits auf fünf Grad herab, in den meisten Wohnungen ist es schon jetzt eiskalt.

Für viele Menschen im ohnehin bitterarmen Osten der Ukraine ist die Erneuerung ihrer Fensterscheiben unbezahlbar. Ohne Fensterglas aber ist der Winter in der Region, wo die Temperatur oft auf minus 20 Grad fällt, nicht zu überleben. "Der Winter wird zum Überlebenskampf", warnt Klaus Schwertner, Geschäftsführer der Caritas Wien. Vier Millionen Menschen leben in der Krisenzone der Ostukraine, ihre Versorgung wird immer schwieriger. Es mangelt an allem: Mänteln, Decken, Winterschuhe – und Fensterscheiben. Mit Nothilfeprojekten der Caritas werden derzeit 5000 Menschen versorgt. In Slowjansk sollen tausend Häuser mit neuen Scheiben winterfest gemacht werden. Mit einer 30-Euro-Spende kann ein Fensterglas gekauft werden.

Spenden erbeten an:
Caritas
Erste Bank
IBAN: AT 23 201110000 1234560
Kennwort: Ukraine oder auch über www.caritas-wien.at

Es ist ein Plan, der die 2019 endende Amtszeit des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko vordefiniert: 2020 will er die Mitgliedschaft in der EU beantragen. Der Weg dorthin: Ein Plan, der 60 Reformen umfasst, die binnen sechs Jahren umgesetzt werden und das Land reif für einen Beitritt in die EU machen sollen. Es geht dabei um Sozial- und Wirtschaftsreformen. Kommunikations-vereinfachender Arbeitstitel laut dem Pressedienst Poroschenkos: "Strategie 2020".

Erst kürzlich hatte Kiew ein Assoziierungsabkommen mit der EU ratifiziert – die Umsetzung des wirtschaftlichen Teils des Abkommens wurde aber in gegenseitigem Einverständnis mit der EU auf Anfang 2016 verschoben. Zu eng sind die ukrainische und die russische Wirtschaft verwoben, als zu groß wurde das Risiko möglicher negativer Auswirkungen auf die ukrainische Wirtschaft eingeschätzt.

Lange Eiszeit

In Kiew jedenfalls bereitet man sich auf eine lange Eiszeit mit dem Nachbarn Russland vor. Am Donnerstag forderte der Präsident das Kabinett per Dekret auf, "die Frage einer zeitweisen Schließung der Grenzposten an der Staatsgrenze zu Russland für Autos, Fußgänger und den Schiffsverkehr zu klären". Begründet wird das mit der "fortdauernden Einmischung" Russlands in interne ukrainische Angelegenheiten.

Die Waffenruhe zwischen Separatisten und den ukrainischen Streitkräften scheint indes zu halten. Am Donnerstag sagte Poroschenko, in den vergangenen 24 Stunden habe es erstmals keine Toten und Verletzten gegeben. Poroschenko hätte am Mittwoch vor der UN-Vollversammlung sprechen sollen. An seiner statt reiste Premier Arseni Jazenjuk nach New York. Er rief in seiner Rede Russland zu ernsthaften Bemühungen um eine Entschärfung der Krise auf: "Wir sind ein Land, das Frieden braucht, und es ist schwierig, ein Friedensabkommen zu verhandeln, wenn wir dabei einen Gewehrlauf von Russland im Gesicht haben."

Kommentare