"Auch ein alter weißer Mann kann Politik für Junge machen"

Mit Jahresbeginn 1995, vor 30 Jahren, ist Österreich der EU beigetreten. Der Italiener Leoluca Orlando saß damals schon als Grünen-Abgeordneter im EU-Parlament, vergangenen Mai wurde er mit 76 Jahren wieder hineingewählt - als ältester Abgeordneter. Mehr als ein halbes Jahrhundert jünger ist seine Fraktionskollegin und die jüngste Abgeordnete, die 23-jährige Österreicherin Lena Schilling. Der KURIER traf die beiden zu Jahresende im EU-Parlament in Straßburg.
KURIER: Unterschiedliche Generationen haben oft unterschiedliche Lebenseinstellungen. Gibt es Themen, bei denen Sie einander nicht verstehen - obwohl Sie in derselben Fraktion sind?
Lena Schilling: Schwierig. Ich glaube, dass diese Generationenfrage gar nicht so groß und entscheidend ist. Wenn wir in der Fraktion zusammensitzen, sind wir oft einer Meinung. Es geht nicht ums Alter, sondern um die Perspektive, die wir auf Zukunft haben. Meine ist eine, in der wir alle gemeinsam an diesen Krisen arbeiten.
Was natürlich stimmt: Die Welt, in der Leoluca aufgewachsen ist, hat anders ausgesehen als die, in der ich großgeworden bin. Das ändert etwas an der Realität. Aber es ändert nichts an den Visionen, die wir beide haben. Ein „alter weißer Mann“ kann Politik für junge Menschen machen. Umgekehrt können auch Junge eine Politik machen, die sehr wenig mit unseren Lebensrealitäten zu tun hat.
Die Wienerin Lena Schilling wurde als Klimaaktivistin bekannt, hat den Jugendrat mitgegründet und war führend an den Protesten gegen den Bau des Lobautunnels beteiligt. Nach einem von Kontroversen um ihre Person geprägten Wahlkampf zog sie 2024 für die Grünen ins EU-Parlament ein. Sie ist dort u. a. Mitglied im Ausschuss für Umweltfragen.
Der Rechtswissenschafter Leoluca Orlando aus Sizilien begann seine Karriere in den 70er-Jahren als Christdemokrat und gewann vor allem mit seinem Kampf gegen die Mafia an Popularität. Zwischen 1985 und 2022 war er mehrmals Bürgermeister von Palermo. Auch er ist EU-Abgeordneter der Grünen-Fraktion, wie auch schon von 1994 bis 1999.
Leoluca Orlando: Die Alten müssen den Jungen mehr zuhören und sollen nicht die ganze Zeit selbst reden. Aber manchmal sprechen die Jungen auch eine andere Sprache, für die ich eine Übersetzung brauche. Dann muss ich nachfragen und sie erklären mir, was sie meinen.
Frau Schilling, Sie haben als Klimaaktivistin in Wien begonnen. „Fridays for Future“ (FFF) ist vor allem von jungen Menschen ausgegangen. Kämpfen mittlerweile alle Altersgruppen in gleichem Ausmaß gegen den Klimawandel an?
Schilling: Es stimmt, dass FFF eine weltweit junge Klimabewegung war. Aber ganz wichtig ist, wie diese Proteste funktioniert haben: Ohne die Menschen, die zum Beispiel Erfahrung in Hainburg (1984 besetzten Tausende die Hainburger Au, um gegen ein geplantes Wasserkraftwerk zu demonstrieren, Anm.), hätten wir "Lobau bleibt" nicht besetzen können. Und für FFF war es total wichtig, dass wir auch die „Parents“ und die „Grandparents for Future“ hatten. Viele junge Menschen politisieren gerade auch ihre Eltern.
Wir wissen, dass wir die Welt leider nicht in fünf Tagen ändern werden – aber wir wissen, dass Menschen schon seit Jahrzehnten dafür kämpfen.
Orlando: Viele dachten in Europa lange, der Klimawandel sei nicht unser Problem, würde vor allem andere Kontinente treffen. Heute wissen wir, dass das falsch war. Einige Junge haben das schnell erkannt und angesprochen – und uns dabei geholfen, offener zu sein, nicht nur beim Thema Klima.

Leoluca Orlando und Lena Schilling im Gespräch mit dem Kurier
Herr Orlando, Sie waren schon zwischen 1994 und 1999 EU-Abgeordneter. Was hat sich seitdem verändert?
Orlando: Vieles ist anders. Der größte Unterschied ist wahrscheinlich, dass ich mich damals für neue europäische Gesetze eingesetzt habe. Heute möchte ich neue Rechte, weil die Gesetze sich manchmal gegen die Rechte von zum Beispiel Migranten oder LGBT-Personen stellen.
Wäre es damals denkbar gewesen, dass eine 23-Jährige wie Frau Schilling ins Parlament einzieht?
Orlando: Nein, die Jungen haben hier in den 90er-Jahren quasi nicht existiert. Sie waren die Menschen der Zukunft, nicht der Gegenwart.
Ich habe als Teil der Studentenbewegung in den 60er-Jahren die Rechtsfakultät in Palermo besetzt, als mein Vater Dekan war. Schon damals ist es uns darum gegangen, dass wir nicht mehr die Jungen sein wollten, die irgendwann mal zu Menschen werden. Wir wollten sofort Bürger sein.
Mit 1. Jänner 2025 ist Österreich 30 Jahre in der EU. Viele junge Menschen fühlen sich allgemein von der Politik entfremdet, aber die EU-Institutionen scheinen oft besonders weit weg, die Vorteile der Mitgliedschaft sind für viele selbstverständlich geworden. Was könnte man dagegen unternehmen?
Orlando: Ja, das ist ein Problem. Die Jungen müssen mehr wählen. Aber noch wichtiger wäre, dass sie jeden Tag eine stärkere politische Rolle spielen.
Schilling: Ich glaube, genau da ist der Punkt. „Ihr müsst eine politische Rolle spielen“ ist ein Satz, den viele junge Menschen satthaben. Das kann ich verstehen, weil die Rolle, die wir haben, eine ganz kleine ist. Weder in den Parlamenten noch in den Medien sind wir genug repräsentiert.
Als ich an Schulen unterwegs war, habe ich immer gefragt: „Wer von euch hat das Gefühl, in der Gesellschaft mitzuentscheiden?“ Da hat fast niemand aufgezeigt, nur manchmal der Schulsprecher oder die Schulsprecherin. Wenn wir jungen Menschen in Diskussionen und an Verhandlungstischen keinen Platz geben, brauchen wir uns darüber nicht wundern. Ich will diese Debattenwelten ändern.
Wie?
Schilling: Sprache schafft Realitäten und die müssen verändert werden. Wenn man sich hier Debatten anhört und vielleicht 70 Seiten an Dokumenten über „Heavy Duty Vehicles“ liest, klingt das nicht sexy. Wenn man sagt „Es geht um Linienbusse und darum, wie ihr in Städten von A nach B kommt und wie viel CO2 die ausstoßen“ ist das schon etwas ganz anderes.
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