OECD-Experte über Macron: „Sollte den Redenschreiber wechseln“
Wenn französische Medien die soziale Situation Frankreichs mit der anderer Länder vergleichen wollen, wenden sie sich oft an einen seit 1985 in Paris lebenden Österreicher. Der 60-jährige Michael Förster ist einer der leitenden Analytiker der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
KURIER: Die Revolte der Gelbwesten hält seit drei Monaten an. Laut Umfragen sympathisiert noch immer etwa die Hälfte der Franzosen mit dieser losen Bewegung. Wie erklären Sie das?
Michael Förster: Bei den Gelbwesten geht es erstens um mangelnde Kaufkraft, und zwar im Besonderen bei der unteren Mittelklasse. Zweitens um mangelnde soziale Aufstiegschancen. Am Anfang gab es in Paris eine gewisse Unterschätzung dieser Bewegung, die sich vor allem in der Provinz an der Erhöhung des Benzinpreises entzündet hatte.
Diese Verteuerung, die übrigens weniger von den Steuern als durch den internationalen Ölpreis verursacht wurde, betraf auch die Heizkosten. Für die oberen Einkommensschichten fällt das nicht sehr ins Gewicht und für den untersten Teil gibt es ein Auffangnetz, das in Frankreich sehr großzügig ist.
Wenn man aber ein Einkommen hat, das knapp am französischen Mindestgehalt liegt (für einen Vollzeitjob monatlich 1203 netto), vielleicht noch ein, zwei Kinder großzieht, dann ist das sehr schmerzhaft. Die Kosten für Energie, aber auch besonders für Wohnraum und in weiterer Hinsicht bei Gesundheit und Erziehung sind stärker gestiegen als das Einkommen der unteren Mittelschicht.
Der Zugang zum Gesundheits- und Erziehungswesen ist doch weitgehend kostenlos?
Aber wie in anderen Ländern werden zunehmend Teile des Gesundheits- und Erziehungswesen privatisiert. Wer im mittleren Segment der Gesellschaft mithalten will, schickt seine Kinder, zusätzlich zur öffentlichen Schule, auch noch in teure Privatkurse.
Das tangiert die erwähnten, mangelnden Aufstiegschancen?
Im OECD-Schnitt braucht es vier bis fünf Generationen, für einen Aufstieg aus den zehn Prozent des ärmsten Segments der Bevölkerung in die Mittelschicht. In Frankreich sind sechs Generationen nötig. Bei PISA-Studien liegt Frankreichs Bildungssystem im Durchschnitt.
Aber im Detail wird eine extreme Kluft sichtbar zwischen den Ergebnissen der Kinder aus gut situierten Familien, die mit den Leistungen der Schüler in Top-Staaten wie Finnland oder Korea vergleichbar sind, und Kindern aus dem untersten Bevölkerungssegment, die abstürzen.
Die Lehrergehälter in Frankreich sind zu niedrig. Es gibt auch kaum finanzielle Anreize, um erfahrene Lehrer in benachteiligte Viertel zu bringen. So bleiben die Eliten unter sich, während die Aufstiegshoffnungen der unteren Mittelschicht erlöschen.
Aber Macron klagt, Frankreich würde „Wahnsinnsmoneten“ in Sozialleistungen verpulvern.
Da liegt Macron falsch. Mit 31 Prozent des Budgets gibt zwar Frankreich mehr für seinen Sozialstaat aus als andere OECD-Staaten. Aber das ist nicht hinausgeschmissenes Geld. Dadurch wird die Ungleichheit, die vor den Sozialabgaben und Steuern besteht, um ein Drittel verringert.
Im EU-Schnitt ist das nur ein Viertel. Man sollte die Treffsicherheit weiter erhöhen, aber den Aufwand keinesfalls verringern.
Wo liegt Macron richtig?
Bei der Arbeitsmarkt-Reform. Frankreich hat eine doppelt so hohe Arbeitslosenrate als Österreich. Das Land leidet unter einem zu segmentierten Arbeitsmarkt. Mit mehr Flexibilität bei Kündigungen und Einstellungen will Macron die Eingliederung der Jobsucher erleichtern.
Aber zu dieser Arbeitsmarkt-Reform zählt auch die Einführung eines Weiterbildungskontos, das Arbeitnehmern über ihre jeweilige Anstellung hinausbegleitet, und über das sie bestimmen können. Zuvor gab es so etwas meistens nur in großen Unternehmen. Arbeitnehmer in Kleinfirmen oder Zeitverträgen hatten kaum Anrecht auf außerbetriebliche Weiterqualifizierung. Da hat Macron EU-weit eine Vorreiterrolle.
Aber die Arbeitsmarkt-Reform trug dazu bei, Macron als „Vollzugsgehilfen der Bosse“ zu schmähen.
Bei Macron überlagern in der Öffentlichkeit kritikwürdige Aspekte die positiven Seiten seiner Maßnahmen. Er sollte seinen Redenschreiber wechseln. Nehmen wir die so genannte „Aktivitäts-Prämie“ (eine vom Staat ausbezahlte Aufbesserung des Einkommens von Niedrigverdienern). Die Erhöhung dieser Prämie zuletzt durch Macron brachte eine sehr substantielle und zielgerichtete Verbesserung für jene mittleren Einkommensgruppen, die sich in der Gelbwesten-Bewegung geäußert hatten.
Das war auch organisatorisch eine Meisterleistung der französischen Verwaltung. Ich traf Spitzenbeamte der Finanzverwaltung, die jammerten, dass Macron ihnen nicht genügend Zeit ließe, um diesen Beschluss umzusetzen. Aber sie schafften es. Das war alles andere als eine Scheinmaßnahme.
Es gibt zwei Haltungen angesichts der Gelbwesten-Krise: die einen sagen, Macron müsse seine Steuerpolitik, die bisher eher den wohlhabenden Schichten entgegenkam, wieder ausgleichen. Macron sagt, die Krise sei darauf zurückzuführen, dass seine Reformen nicht schnell genug greifen, er müsse seinen bisherigen Kurs noch intensivieren. Wer hat recht?
Beide. Macrons Arbeitsmarktreform konnte noch nicht richtig greifen, man sollte sie auch teilweise intensivieren.
Aber bei seiner Fiskalpolitik sind einige Aspekte zu kritisieren. Es hat zwar keine Umverteilung von arm zu reich gegeben, wie ihm das vorgeworfen wird, es ging auch nicht um großartige Summen. Aber es wurden nicht die besten Zeichen gesetzt. Und dass spielt auch eine Rolle.
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