Reimon im Irak: "Ich könnte dort keinen Tag überleben"
Die Erschöpftesten von ihnen reißt nicht einmal mehr das herannahende Knattern des Hubschraubers aus ihrer Apathie. Durstig, von der Sonne verbrannt, todmüde sehen Gruppen von Flüchtlingen im glühend heißen Sindschar-Gebirge, wie die wenigen anderen, die noch bei Kräften sind, auf den Helikopter zustürzen. Er bringt Wasser, Nahrung, Medikamente, Planen. Vorübergehende Rettung für ein paar Dutzend Verzweifelte, während doch Zehntausende Flüchtlinge, die Mehrheit von ihnen Frauen und Kinder, Stunde um Stunde ums Überleben kämpfen.
"Ich könnte hier keinen Tag überleben", schildert der 43-jährige Michel Reimon dem KURIER. Der Grüne EU-Abgeordnete saß im Hubschrauber. Sah, "wie die Menschen auf den kahlen Felsen sitzen. Sie haben nichts. Einfach nichts. Und es herrscht eine unvorstellbare Hitze, an die 45 Grad". Vier Mal hätte der Transport-Helikopter der irakischen Luftwaffe am Sonntag von der Stadt Erbil ins Sindschar-Gebirge fliegen sollen, um Hilfe zu bringen.
Verdurstet
Ein ganzes Volk ist auf der Flucht: Für die Fanatiker der IS sind die rund 600.000 im Nordirak lebenden Jesiden "Teufelsanbeter". In Todesangst flohen sie deshalb vor den vorrückenden Fanatikern – oft mit nichts als dem, was sie am Leib trugen.
Die Berichte der Überlebenden auf dem Sindschar sind an Schrecken kaum zu überbieten: Sterbende liegen in den Felsnischen, unvorstellbarer Gestank liegt in der Luft. Eine Schwangere musste zwischen den nackten Felsen, ohne Wasser entbinden. Die Nabelschnur trennten Helfer mit einem Stein durch. Das Baby lebte nur eine halbe Stunde.
Selbst die wiederholten Abwürfe von Hilfspaketen der US- und britischen Luftwaffe bringen kaum Linderung: Wegen des Beschusses müssen die Flugzeuge so hoch fliegen, dass die Pakete samt Wassergalonen oft beim Aufprall zerplatzen.
So groß ist die Verzweiflung der Belagerten, dass sich einige nachts an die Stellungen der Dschihadisten am Fuß des Gebirgszuges heran schlichen um Lebensmittel zu stehlen. Nicht alle kamen zurück.
Bewaffnung
Strategische Planungen, wie den Tausenden Flüchtlingen aus ihrer Todesfalle geholfen werden kann, sind auch in Washington angelaufen. Flugzeuge können allerdings im Sindschar-Gebirge nicht landen, mit Helikoptern sind immer nur kleine Gruppen zu retten.
Unterdessen sollen die kurdischen Peschmerga-Milizen aufgerüstet werden, um sich besser gegen die bis an die Zähne bewaffneten IS-Kämpfer verteidigen zu können. Die USA haben damit begonnen, die Kurden mit Waffen und Munition zu beliefern. Doch bis die kurdischen Truppen auf den nordirakischen Schlachtfeldern gegen die Islamisten eine Wende erkämpft haben, können die Flüchtlinge auf dem Sindschar-Gebirgszug nicht mehr warten. "Die Hilfe muss jetzt kommen", sagt ein im Skype-Gespräch hörbar erschütterter Michel Reimon, "jetzt, sofort!"
Die religiöse Minderheit der Jesiden
Ethnische Kurden
Die – geschätzt – rund 800.000 Jesiden sind von der Volkszugehörigkeit her Kurden. Die Mehrheit von ihnen lebt im Nordirak, weiters in Syrien, der Türkei und dem Iran. Auch nach Deutschland sind etwa 60.000 Jesiden ausgewandert.
Religion
Die Wurzeln des Jesidentums reichen 4000 Jahre zurück, es vereint Elemente altorientalischer Religionen. Im jesidischen Glauben steht der „Engel Pfau“ im Mittelpunkt – radikale Islamisten sehen darin eine „Teufelsanbetung“.
Die USA setzten am Dienstag ihre Luftangriffe gegen die Jihadisten im Nordirak fort. Nach offiziellen Angaben der Streitkräfte griffen Kampfjets mehrere Kontrollposten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) sowie Fahrzeuge der Extremisten nahe des Sinjar-Gebirges an.
Insgesamt zog das Verteidigungsministerium in Washington nach den mehrtägigen Luftschlägen jedoch eine eher ernüchternde Bilanz. Die IS-Milizen seien noch nicht gestoppt, wohl nicht einmal ernsthaft geschwächt, hieß es. Die Luftangriffe der USA haben nach Einschätzung des Pentagons den Vormarsch der islamistischen Milizen gebremst, aber bisher nicht aufhalten können. Man habe ihr "Tempo verlangsamt", sagte Generalleutnant William Mayville. Doch die IS-Kämpfer seien "weiter darauf aus, größere Gebiete zu gewinnen".
Washington stärkt die Kurden im Nordirak mit Waffenlieferungen für den Kampf gegen die Terrormiliz. Die Lieferungen seien bereits vergangene Woche begonnen worden, sagte die Sprecherin im US-Außenamt, Marie Harf, dem US-Sender CNN.
Tausende brauchen Hilfe
Zudem versorgte das US-Militär zum fünften Mal die Flüchtlinge im Sinjar-Gebirge mit Lebensmitteln und Wasser. In dem Gebirge fanden Zehntausende Flüchtlinge verfolgter Minderheiten Zuflucht. Rund 40.000 Jesiden sind nach ihrer Massenflucht wieder in Sicherheit, etwa 40.000 weitere warten in der Gebirgsregion noch auf ihre Hilfe, wie der Zentralrat der Jesiden in Deutschland mitteilte.
Neuer Premier mit Rückendeckung
Dagegen weigert sich Maliki, die Macht abzugeben. Die Entscheidung von Präsident Fuad Masoum, Abadi mit der Regierungsbildung zu beauftragen, sei Verfassungsbruch, sagte Maliki laut der Nachrichtenseite Al-Sumeria in einer TV-Ansprache. Der einzige Kandidat für eine Regierungsbildung sei er selbst. Den USA warf er vor, bei der "Rechtsbeugung" mitzuwirken. Maliki hatte am Sonntagabend Sicherheitskräfte an wichtigen Stellen in Bagdad positionieren lassen, um seinen Machtanspruch zu untermauern.
Staatschef Masoum hatte am Montag den schiitischen Politiker Abadi gegen den Willen Malikis mit der Regierungsbildung beauftragt – und somit den lange schwelenden Machtkampf angeheizt. Maliki und Abadi gehören derselben Partei an.
Österreich gibt Geld frei
Der Vormarsch der IS-Miliz beschäftigt am Dienstag auch die EU-Botschafterkonferenz in Brüssel. Österreich hat bereits angekündigt, eine Million aus dem Auslandskatastrophenfonds zur Verfügung zu stellen. Das Geld solle so schnell wie möglich fließen und vor Ort von den Vereinten Nationen verteilt werden, erklärte ein Sprecher des Außenministeriums am Dienstag gegenüber der APA.
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