Niger: Der Hunger ist immer mit dabei

Kampf ums Überleben, im Spital der nigrischen Stadt Zinder
Essen zu kaufen, ist für viele Menschen im zweitärmsten Land der Welt unerschwinglich. Für unzählige Kinder ist die Not tödlich.

„Mit meinen anderen sieben Kindern hatte ich nie solche Probleme“, erzählt Salamatou Mani und blickt auf ihren beiden leise vor sich hin weinenden Babys. „Vielleicht ist es, weil sie Zwillinge sind.“ Zwei Monate sind sie alt, Awa und Adam, wirken aber so winzig, als wären sie vor kaum zwei Wochen geboren worden. Geduldig sitzt die 27-jährige junge Frau auf ihrem Spitalsbett, die beiden Kleinen liegen auf ihren Beinen. Neben ihr reiht sich ein Bett ans nächste, Dutzende, ein Saal an den nächsten: Insgesamt 170 Mütter mit ihren ums Überleben kämpfenden, schwer unterernährten Babys werden hier, in einer Außenstelle des Spitals der nigrischen Stadt Zinder, betreut.

Awa und Adam haben das Schlimmste schon hinter sich. Sie müssen nicht mehr mit einer Sonde ernährt werden, weil sie zu schwach sind, von der Brust ihrer – ebenfalls unterernährten – Mutter zu trinken. Ein paar Tage noch, dann kann die neunfache Mutter mit ihren Zwillingen wieder den vierstündigen Fußmarsch zurück in ihr Dorf im Süden Nigers antreten.

Niger: Der Hunger ist immer mit dabei

Salamatou Mani und ihre Zwillinge Awa und Adam

Im Niger, einem der ärmsten Länder der Welt, ist Unterernährung ein chronisches Problem. Mehr als 2,3 Millionen der rund 20 Millionen Einwohner im Land zwischen Libyen und Nigeria, könnten ohne humanitäre Hilfe (zum Großteil von der EU) nicht überleben. Drei Viertel des Landes sind Wüste. Nur quer durch den Süden, entlang Afrikas drittlängstem Strom, dem Niger, zieht sich ein grünes Band. Hirsefelder, so weit das Auge reicht, aber bei weitem nicht genug, um die rasch wachsende Bevölkerung zu ernähren.

In den Monaten zwischen August und November wird die Lage immer besonders schlimm. Die Nahrungsmittelreserven sind verbraucht, die neue Ernte ist noch nicht eingebracht. Und Stürme und Fluten der Regenzeit verwüsten immer häufiger, immer schwerer die Felder.

In der Kinderabteilung des Spitals von Zinder ist die akute Not dieser Tage wieder zu spüren: „50 Kinder wurden heute gebracht“, erzählt ein Doktor, „höchstens 15 sind es an normalen Tagen.“ Wenn die Mütter hier mit ihren Babys ankommen, schildert er weiter, „sind die Kinder immer schon in kritischem Zustand. Zuerst gehen die Eltern immer zu den traditionellen Heilern im Dorf. Der verschreibt dann Pflanzen, Kräutertees, Blätter oder so etwas… und dann verliert man wertvolle Zeit.“ Kommen sie im Spital an, sind etwa fünf Prozent der Kinder nicht mehr zu retten. Sehr viele Kinder mehr unter fünf Jahren sterben in den Dörfern der Region – niemand kennt ihre Zahl. Denn registriert werden Kinder im Land erst, wenn sie in die Schule kommen.

Niger: Der Hunger ist immer mit dabei

Gesundheitszentrum für Mütter und ihre Babys - warten auf die Nothilfe

Unterernährung bei Kleinkindern kann zu schweren, bleibenden Schäden führen. Knapp 358.000 schwerst mangelernährte Kinder konnten im Vorjahr in Niger mit Hilfsgeldern der EU vor dem Schlimmsten bewahrt, stabilisiert und gerettet werden. „Es ist gelungen, die Kindersterblichkeit im Land zu senken“; sagt Isabel Coello, Sprecherin des humanitären Flügels der EU (ECHO) für Westafrika. „Aber die Unterernährung können wir nicht stoppen.“ Das liegt zu einen daran, dass der humanitäre Zweig der EU rein auf Nothilfe ausgerichtet ist und keine Krisenursachen bekämpft. Dem widmen sich die traditionellen Entwicklungsprogramme der EU. Diese sehen für Niger ein Bugdet von knapp einer Milliarde Euro im  Zeitraum von 2014 bis 2020 vor.

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Aber es ist nicht nur Armut, die ein Volk hungern lässt. „Wenn man die Unterernährung bekämpfen will, muss man an die Wurzeln gehen. Sonst wäre es wie ein Versuch, einen Baum zu fällen, indem man nur die Blätter pflückt“; weiß Nigers Gesundheitsbeauftragter für die Region Zinder. Die Hauptursache sieht er im mangelnden Wissen der Bevölkerung. Frauen etwa hören auf zu stillen, sobald sie wieder schwanger werden. Denn die gängige – und vollkommen irrige -  Volksmeinung lautet: Das Stillen schade dem Fötus. Und so werden oft zwei, drei Monate alte Babys abgestillt und mit unverträglichem Hirsebrei gefüttert. Zu mangelndem Wissen aber kommen Missernten, Epidemien, mangelnde Hygiene, schlechtes Wasser, Dürre, Fluten, Überbevölkerung und Hunderttausende Flüchtlinge, die im friedlichen Niger Zuflucht fanden. Importierte Nahrungsmittel könnte man kaufen – für die überwiegend bitterarme Bevölkerung Nigerias aber sind sie unerschwinglich.

Die rettende Erdnusspaste

Einen rettenden Umschwung brachte ein kleines rotes, an Astronauten-Nahrung erinnerndes Päckchen. „Plumpy-nut“ ist darauf zu lesen. Die mit  Vitaminen, Mineralstoffen, Eiweis und Fett angereicherte Erdnusspaste enthält pro Päckchen an die 500 Kilokalorien und hat seit ihrer Entwicklung buchstäblich Hunderttausenden Kindern das Leben gerettet. Hergestellt wird die Paste in Nigers Hauptstadt Niamey – bis zu vier Fünftel der Ausgaben für Verkauf und Verteilung der Paste in Niger zahlt die EU. „Das hat alle hier geändert“, schildert David Kerespars, Chef des EU-Nothilfeprogramms (ECHO) in Niger. „Seither hat sich die Lage vor allem in den Dörfern verbessert. Die Paste kann daheim, ganz unkompliziert bis zu drei Mal am Tag an die Kinder gegeben werden.“

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Unterricht über Empfängnisverhütung im Gesundheitszentrum von Lingui

Schutz vor der sengenden Hitze suchend, haben sich unterdessen Dutzende Frauen und ihre Kleinkinder unter einem Baum eingefunden. Im – von der EU mitfinanzierten – Gesundheitszentrum des Ortes Lingui wird heute wieder praktiziert. In der Mutter-Kind-Station, vier Autostunden von der nächsten größeren Stadt entfernt, wird gewogen und gemessen, geimpft und unterrichtet. Thema des heutigen Programmes: Empfängnisverhütung. „Wisst Ihr was das ist?“, fragt der Lehrer im blauen Kittel. „Das ist ein Präservativ“, antworten die Frauen im Chor. Ähnlich einstudierte Antworten gibt es auch auf Fragen nach der Pille. Die vielen kleinen Kinder, die sich hier an ihre Mütter kuscheln, lassen aber nicht vermuten, dass das frisch erworbene, theoretische Wissen über Empfängnisverhütung auch praktisch angewendet wird. Sieben Kinder bekommt jede Frau im Niger im Durchschnitt. Das ist die höchste Geburtenrate der Welt – und wird dazu führen, dass sich die derzeitige Bevölkerungszahl bis 2040 auf 40 Millionen verdoppelt wird.

Fern von hier, in Regierung der Hauptstadt Niamey, will man zwar die Geburtenkontrolle angehen, doch das größte Problem ist nach wie vor: „Eine große Familie mit vielen Kindern zu haben, das ist bei uns ein Wert“, schildert Krankenschwester Madougou  Hawaou. Der Idee, weniger Kinder zu bekommen, stehen Tradition und Religion entgegen. Und auch der greise Chef des Dorfes Lingui, der am Rande des Gesundheitszentrum das regen Treiben im Ort mit stoischer Ruhe mitverfolgt, pflichtet bei: Es gäbe viele Menschen hier, aber deshalb brauche es auch mehr Unterstützung von außen.

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Habiba und ihr schwerst unterernährter Sohn müssen ins Spital

Ein klappriges Rettungsauto fährt indessen vor. Habiba und ihr vier Monate alter Bub müssen ins Spital, beide sind schwer unterernährt, der kleine Saidou schwebt in Lebensgefahr. Er ist ihr fünftes Kind. Zwei ihrer Kleinen sind gestorben. Wie alt sie ist weiß Habiba nicht, wahrscheinlich Mitte zwanzig. Müde und erschöpft wirkt sie, aber nicht ängstlich. „Alles liegt in Gottes Hand“, sag sie leise, „und wenn Gott will, werde ich wieder Kinder haben."

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