"Nein" und "Ja" liegen vor Referendum Kopf an Kopf
Tränengasschwaden über dem völlig überfüllten Syntagma-Platz vor dem Parlament in Athen. Zehntausende sind Freitagabend gekommen, um sich noch einmal von Premier Alexis Tsipras auf das "Nein" zu den EU-Reformplänen einschwören zu lassen. Knappe fünf Minuten dauert die Rede dann. Tsipras Botschaft ist die gleiche wie in seiner TV-Ansprache am Nachmittag: Die Griechen sollen "Nein" sagen "zur Erpressung. Ich rufe Sie auch auf, für Demokratie und Würde zu stimmen, für ein aufrechtes, stolzes Griechenland."
Noch vor Tsipras Rede kommt es zu ersten gewaltsamen Ausschreitungen: Radikale Syriza-Anhänger gegen die Polizei. Abseits der Großveranstaltung lassen wütende Bürger ihren Aggressionen zumindest in Worten freien Lauf: "Tsipras ist ein Verrückter. Unfassbar, was er mit uns macht", sagt eine ältere Dame. "Er nimmt uns in Geiselhaft, ich werde mit ,Ja‘ stimmen", fügt sie hinzu und geht zur Gegenveranstaltung.
Europahymne
Ganz Athen ist voll geklebt mit Nein-Plakaten (Oxi). Auf vielen sieht man das grimmige Konterfei von Wolfgang Schäuble. Viele Radiosender bringen unkommentiert Tsipras-Reden, zurückhaltender sind die privaten TV-Sender. Sie setzen auf Wettbewerb und werben für ein "Ja" zu Europa. So wie die Veranstaltung der Tsipras-Gegner einen Kilometer vom Syntagma entfernt. Was für ein Unterschied zur "Nein"-Veranstaltung: Hier im Panathinaikos-Stadion versammelten sich bei Klängen der Europa-Hymne die Anhänger der Ja-Kampagne. Ihr Schlachtruf klingt einfach. "Ein ,Ja‘ ist die einzige Option für Griechenland." Studenten treten auf und fordern weiterhin für die Teilnahme am Erasmusprogramm.
Die Stimmung für ein "Nein" oder "Ja" stand am Freitag jedenfalls auf der Kippe, als das Höchstgericht endgültig die letzte Hürde auf dem Weg zum Referendum wegräumte: Eine Klage von zwei Bürgern wegen Gesetzeswidrigkeit der Abstimmung wurde abgewiesen.
Für den Fall eines "Ja" hat Finanzminister Yanis Varoufakis seinen Rücktritt angekündigt. Er sagte, dass die seit Tagen geschlossenen Banken am Dienstag aufsperren würden. Allerdings machte er das von einer Einigung mit den Gläubigern abhängig. Die werde es auch bei einem "Nein" beim Referendum geben, sagte Varoufakis, ein Abkommen sei ja "mehr oder weniger fertig".
Tsipras ließ in einem Interview die Frage nach einem Rücktritt im Falle eines "Ja" am Sonntag offen. "Die Entscheidung des Volks wird respektiert, ich werde das von der Verfassung vorgesehene Verfahren in die Wege leiten."
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Der Reihe nach haben sie in den letzten Tagen erklärt, dass die griechischen Probleme (diesmal) nicht über die Grenzen schwappen könnten: "Die Spanier können beruhigt sein", sagte Ministerpräsident Mariano Rajoy. Die spanische Volkswirtschaft sei zuletzt schneller gewachsen als jede andere in der Eurozone, heißt es in Madrid. Zudem sei die Lage der Banken mit jener von vor drei Jahren nicht mehr vergleichbar. Einen solchen Umschwung betont auch der italienische Premierminister Matteo Renzi: "In der Vergangenheit gehörten wir zu den Problemen – jetzt aber zu denjenigen, die sie zu lösen versuchen." Und sein portugiesischer Amtskollege Pedro Passos Coelho versichert, man werde im Falle einer weiteren Verschärfung der griechischen Krise "auf keinen Fall unvorbereitet erwischt werden".
Tatsächlich spricht einiges dafür, dass die Ansteckungsgefahr der griechischen Probleme derzeit relativ gering ist.
Umfangreicher Brandschutz
Ein wichtiger Faktor ist die Umstrukturierung der griechischen Schulden. Die größten Gläubiger sind mittlerweile die anderen Eurostaaten, der Euro-Rettungsschirm, Europäische Zentralbank (EZB) und Internationaler Währungsfonds. Banken und Versicherungen halten kaum noch griechische Papiere; an den Börsen sollte selbst ein Ausscheiden aus dem Euro-Raum kein allzu großes Drama auslösen.
Dazu kommen die europäischen Brandschutzmaßnahmen: Die Anleihenkäufe der EZB und die Schaffung des Euro-Rettungsschirms, dazu die neue, zentrale Bankenaufsicht durch die EZB, sollten ein griechisches Feuer ersticken, bevor es sich ausbreiten kann.
Die Gefahr eines unmittelbaren Domino-Effektes scheint also gebannt – was freilich nicht heißt, dass es keine langfristigen Risiken gäbe.
Denn niemand weiß, wie ein Staatsbankrott Griechenlands sich tatsächlich auswirken würde; ob, wie und bis wann das Land die Eurozone verlassen könnte. Sinkendes Vertrauen in den Euro als Ganzes könnte früher oder später auch wieder andere Staaten, die wirtschaftlich nicht so solide aufgestellt sind, unter Druck bringen.
Ein "Grexit" könnte zudem einen Präzedenzfall schaffen; sollte in ein paar Jahren ein anderes Euro-Land Schwierigkeiten bekommen, könnte man nicht mehr automatisch davon ausgehen, dass es schon gerettet und in der Währungszone bleiben wird.
Als gefährdet gelten in Brüssel vor allem einige Mittelmeer-Länder: Italiens Wirtschaft etwa ist in den ersten drei Monaten des Jahres zwar zum ersten Mal seit Jahren wieder gewachsen – aber eben nur minimal. Die Arbeitslosigkeit liegt bei zwölf Prozent, die Staatsschulden liegen bei 130 Prozent der Wirtschaftsleistung. Portugal hat zwar den Rettungsschirm vor einem Jahr wieder verlassen, zählt aber nach wie vor zu den schwächeren Euro-Staaten.
Auch Frankreich konnte zuletzt eine solide Erholung aufweisen; gleichzeitig mahnen etwa der IWF und die EU-Kommission weitere Reformen im Land ein. Denn auch die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone ist nicht ganz der Gefahrenzone entkommen.
Zum Referendum bietet die griechische Aegean Air Sonderflüge nach Athen an. Es sind laut Website zusätzliche Flüge ab London-Stansted und Brüssel geplant. Passagiere, die sich auf Handgepäck beschränken, fliegen zu einem günstigeren Preis. Damit wolle man es im Ausland lebenden Griechen ermöglichen, an der Abstimmung teilzunehmen, die nur in Griechenland und im Heimatort möglich ist.
Daher wird auch innerhalb Griechenlands eine große Reisetätigkeit einsetzen, Fähren haben Hochbetrieb, kleinere Baustellen auf Autobahnen sollen weggeräumt werden. Das ist insofern wichtig, als bei Volksabstimmungen über "gravierende nationale Themen" in Griechenland die Wahlbeteiligung bei mindestens 40 Prozent liegen muss. Wahlberechtigt sind 9,8 Millionen Griechen über 18 Jahre.
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