Europas Islam-Gelehrte distanzieren sich von IS

US-Journalist Steven Sotloff auf einer Archivaufnahme - der Reporter wurde von den IS-Dschihadisten enthauptet.
Nach dem brutalen Enthauptungsvideo zeigen sich europäische Muslim-Vertreter erschüttert – Briten erlassen Fatwa.

Am Dienstagabend wurde das brutale Video der IS-Dschihadisten, in dem die Enthauptung des US-Journalisten Steven Sotloff zu sehen ist, publik – seither herrscht weltweit Entsetzen über den Akt (siehe unten). Jetzt regt sich auch unter europäischen Islam-Gelehrten Protest: In Deutschland äußerte man sich in einem Brief öffentlich zu der „ungeheuerliche Gewalt“, in Großbritannien erließ man sogar eine Fatwa gegen die Miliz.

Man sei „zutiefst bestürzt“ über den Terror der IS-Dschihadisten, lautet das Statement der Leiter von sechs deutschen Zentren für islamische Theologie in Deutschland, das jetzt laut Süddeutscher Zeitung veröffentlicht wurde. 50 islamische Wissenschaftler haben es unterzeichnet: Die ungeheuerliche Gewalt des IS „negiert alle Regeln der Menschlichkeit und zivilisatorischen Normen, für deren Herausbildung auch der Islam eine wichtige Rolle gespielt hat“, schreiben die Professoren. Die Auslegung des Koran durch die IS-Miliz wird abgewiesen: „Solche Deutungen des Islam, die ihn zu einer archaischen Ideologie des Hasses und der Gewalt pervertieren, lehnen wir strikt ab und verurteilen diese aufs Schärfste.“

Briten erlassen Fatwa

In Deutschland ist dies die bisher schärfste Reaktion auf die Terrorakte des IS, wie die Süddeutsche berichtet - der Zentralrat der Muslime hatte sich bereits mehrfach gegen die Miliz gewandt, allerdings nicht mit derart deutlichen Worten. In London, wo die Debatte über den möglichen Mörder auf dem Video besonders emotional geführt wird, ist die muslimische Glaubensgemeinschaft noch einen Schritt weiter gegangen: Imame erließen dort eine Fatwa gegen die Terrormiliz und deren Kämpfer – schließlich wird vermutet, dass der Terrorist auf den beiden Videos ein ehemaliger DJ aus dem Londoner Raum sei.

Sechs Gelehrte haben sich dafür zusammengetan, sie sprechen von der „vergifteten Ideologie“ des IS. Die Miliz sei eine „ketzerische und extremistische Organisation“, es sei aus religiösen Gründen verboten, dieser beizutreten, berichtet die Sunday Times. Die englische Politik hat den Schritt wohlwollend begrüßt, auch Sayeeda Warsi, einst Staatsministerin im Außenministerium und das erste muslimisches Kabinettsmitglied unter David Cameron, zeigte sich erfreut. Es wird vermutet, dass bis zu 500 Briten in Syrien und für den IS kämpfen und weitere 250 bereits aus den Kriegsgebieten zurückgekehrt sind.

In den Niederlanden, berichtet die Süddeutsche, sollen jüngere Imame mit einer Kampagne auf Facebook, Twitter und anderen sozialen Medien gegen die Botschaften der Dschihadisten vorgehen.

Die Terroristen des "Islamischer Staates" haben die zweite US-Geisel in ihrer Gewalt getötet - am Dienstagabend war ein Video der brutalen Tat im Internet aufgetaucht, am Mittwoch bestätigten die USA und Großbritannien die Echtheit der Aufnahmen.

Die Reaktionen auf das Video waren weltweit von Entsetzen geprägt. Verurteilungen gab es etwa aus Großbritannien, Frankreich und von der UNO. US-Präsident Barack Obama kündigte in der Nacht auf Mittwoch eine diplomatische Initiative an, ein Bündnis zur Bekämpfung von IS zu schmieden. Er sei angewidert von der Barbarei der IS, sagte er später bei einem Besuch in Estland. Der Gerechtigkeit werde genüge getan. Er bekräftigte, dass sich sein Land nicht "einschüchtern" lasse. Ziel Washingtons sei es, dass der IS keine Gefahr mehr für die Region (in Syrien und im Irak) darstelle, dies werde aber "Zeit brauchen", so Obama.

Die USA werden die Terrormiliz IS nach den Worten von US-Vizepräsident Joe Biden "bis zu den Toren der Hölle" verfolgen.

London erwägt Luftangriffe

Der britische Außenminister Hamond bestätigte, dass das Video wohl außerdem den selben IS-Kämpfer zeige, der bereits in dem ersten Enthauptungs-Video aufgetreten war und der mit einem offenbar britischen Akzent Englisch spricht. Auch er schließe Luftangriffe auf Stellungen des IS nicht aus. Großbritannien werde jedenfalls alle Möglichkeiten prüfen, um die britische Geisel in den Händen der IS zu schützen.

Das Video war zuvor im Internet aufgetaucht. Es zeigt, wie ein ganz in Schwarz gekleideter Mann ein Messer an den Hals seines Opfers ansetzt. Vor knapp zwei Wochen hatte die Terrormiliz bereits den US-Journalisten James Foley enthauptet. Beide seien als Reaktion auf US-Luftangriffe im Nordirak getötet worden, hatte es in den Videos geheißen.

Obama unter Druck

Bereits vor Wochen hatte Obama angesichts des Vormarsches des IS mehrere hundert Soldaten in den Irak geschickt. Die Regierung in Washington betont, es kämen keine Kampftruppen in den Irak. Zuletzt führte das US-Militär jedoch Luftschläge gegen die Islamisten durch. Innenpolitisch steht Obama unter Druck: Die Republikaner im Kongress verlangten von ihm in einer Reaktion am Dienstag eine klare Strategie, wie mit der IS-Bedrohung umzugehen sei.

Australiens Premier Tony Abbott wollte am Mittwoch die Entsendung von Bodentruppen in den Irak nicht ausschließen. Auf die Frage, ob "Stiefel am Boden" notwendig seien, sagte er, IS sei eine "Bedrohung nicht nur für die Menschen im Mittleren Osten, sondern für die ganze Welt". In einem Interview mit Reuters sagte er: "Ich denke, eine militärische Lösung wird entwickelt, muss entwickelt werden. Ich sehe keinen Weg, mit diesen Leuten zu verhandeln". Die US-Nachrichtenseite Daily Beast berichtete zuvor, im Irak seien im Kampf gegen IS in der Nähe des strategisch wichtigen Ortes Zumar offenbar amerikanische und deutsche Spezialeinheiten im Einsatz. Das Pentagon bestritt den Bericht jedoch umgehend.

Vor einem Jahr entführt

Der vor einem Jahr in Syrien entführte Reporter Steven Sotloff (31) soll aus Rache für die US-Luftangriffe im Irak vor laufender Kamera getötet worden sein, berichtete das US-Forschungsinstitut SITE am Dienstagabend. Das Institut veröffentlichte eine Mitschrift des Videos. Demnach richtete der Täter mit gezücktem Messer eine Warnung direkt an Obama, die Militärangriffe im Irak gegen den IS zu unterlassen: "Ich bin zurück, Obama. Und ich bin zurück wegen Deiner arroganten Außenpolitik gegenüber dem Islamischen Staat", sagt er demnach. Der vermummte IS-Kämpfer warnt sämtliche Regierungen, sich nicht auf eine "böse Allianz" mit Amerika einzulassen.

Erst vor knapp zwei Wochen hatten die Extremisten, die weite Landstriche in Syrien und im Irak beherrschen, den US-Journalisten James Foley enthauptet. Nach Angaben von SITE ist derselbe schwarz vermummte IS-Kämpfer auf dem Video zu sehen, der auch bei Foleys Tod dabei war. Zugleich drohten die Milizen mit dem Tod einer britischen Geisel, die ebenfalls gezeigt wurde - das britische Außenminister ließ laut CNN mitteilen, dass man bereits versucht habe, die Geisel - einen britischen Entwicklungshelfer - zu befreien, bisher allerdings erfolglos.

London zieht Reisepässe ein

Die Regierung in London will wegen der anhaltenden Terrorismus-Gefahr Verdächtigen den Reisepass entziehen. Inde sprach der britische Premier David Cameron von einem "verachtenswerten und barbarischen Mord". Der französische Präsident François Hollande meinte, die Tat beweise den "schändlichen Charakter der Dschihadisten-Organisation, die die Freiheit infrage stellt und nur den Terror kennt." Allerdings wiesen beide ausdrücklich darauf hin, dass es noch keine abschließenden Beweise gebe. Auch UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon zeigte sich "empört" über die offenbar durchgeführte Enthauptung.

Das Weiße Haus kündigte die Entsendung von Außenminister John Kerry und Verteidigungsminister Chuck Hagel in die Region an. Sie sollen dort baldigst eine "stärkere regionale Partnerschaft" gegen den IS bilden. Auch ordnete Obama demnach die Entsendung von 350 zusätzlichen Soldaten zum Schutz von diplomatischen Einrichtungen und Personal in Iraks Hauptstadt Bagdad an. Der US-Präsident wird am Mittwoch im Baltikum erwartet. Anschließend ist er beim NATO-Gipfel in Wales, wo der Kampf gegen den Terrorismus ebenfalls zur Sprache kommen dürfte.

Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) will ihren Einfluss außerhalb der arabischen Welt ausdehnen und verteilt inzwischen auch in der Atommacht Pakistan Propagandamaterial. Ein Polizeisprecher in der nordwestpakistanischen Stadt Peshawar sagte am Mittwoch, die zwölfseitigen IS-Werbebroschüren seien seit rund zwei Wochen im Umlauf.

Die Broschüren seien in den Sprachen Dari und Paschtu abgefasst, die in Pakistan und Afghanistan gesprochen werden. Medienberichten zufolge wurden die Dokumente auch in afghanischen Distrikten an der pakistanischen Grenze verteilt. Ein Direktor von Radio Pakistan namens Amjad Khan, der die Broschüre gesehen hat, sagte, Muslime in Pakistan, Afghanistan und Zentralasien würden zur Unterstützung von IS aufgerufen. Die meisten der Pamphlete seien in afghanischen Flüchtlingscamps in Peshawar und Umgebung verteilt worden.

Sicherheitsexperten sagten, möglicherweise versuche IS, in das Vakuum vorzustoßen, das seit Beginn einer Militäroffensive gegen pakistanische Extremisten entstanden sei. Die Terrormiliz IS ist in Pakistan nicht verboten. Sie ist in dem südasiatischen Land bisher aber auch nicht in Erscheinung

Türkei geht gegen Durchreisende vor

Die Türkei geht nach Einschätzung der US-Regierung zunehmend gegen internationale Extremisten vor, die über das Land nach Syrien reisen wollen. "Wir glauben, dass die Türkei (...) ihre Bemühungen verstärkt", sagte Pentagon-Sprecher John Kirby am Dienstag (Ortszeit) in Washington. "Die türkische Regierung ist besorgt über ausländische Kämpfer."

Verteidigungsminister Chuck Hagel werde das Thema ansprechen, wenn er nach dem NATO-Gipfel diesen Donnerstag und Freitag in Wales zu politischen Gesprächen in die Türkei reise. Ein genauer Termin war noch nicht bekannt.

Westliche Regierungen haben lange Zeit kritisiert, dass die Türkei Extremisten ungehindert über die Grenze nach Syrien reisen lasse, wo diese sich im Bürgerkrieg Terrorgruppen wie dem Islamischen Staat (IS) anschließen würden. Die Regierung in Ankara wies den Vorwurf zurück und forderte, ausländische Islamisten müssten bereits in ihren Heimatländern an der Ausreise gehindert werden.

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