Nach Corona-Schock: Italiener stolz auf erfolgreiche Disziplin
Für die Venezianerin Silvia gehört es seit Monaten zur Routine: der tägliche Check der Corona-Zahlen in ihrer Provinz und in ganz Italien. „23 Menschen sind schon wieder an Covid-19 gestorben, um drei mehr als am Vortag“, seufzt die Mittvierzigerin angesichts der Statistik der Zeitung Repubblica am Freitag. Die anderen Zahlen lassen die Romanistin hingegen aufatmen: 108.019 Corona-Tests wurden gemacht und 1.786 Neuinfektionen festgestellt.
„Die Menschen sind nach der Katastrophe vom Frühling sehr vorsichtig und diszipliniert. In Venedig habe ich im Sommer oft heftige Diskussionen mit Touristen erlebt“, erzählt die Venezianerin. Einmal zog im Vaporetto ein älterer Herr, ein Venezianer, im Streit um den verpflichtenden Mundschutz sogar drohend eine Pistole. „Die Angst hat uns fast verrückt gemacht“, stellt Silvia fest. „Der Schock sitzt und saß sehr tief.“ Die Bilder der Militärfahrzeuge voll mit Särgen mit Covid-Opfern oder von weinenden verzweifelten Ärzten, die ihren Patienten nicht helfen konnten, sind nicht nur Italienern eindrücklich in Erinnerung.
35.781 Todesopfer zählte Italien bis Donnerstag. Es war das erste Land des Westens, das die Pandemie mit furchtbarer Wucht getroffen hat.
Aufstand in Marseille
Heute steht Italien mit seinen 60 Millionen Einwohnern wesentlich besser da als Spanien oder Frankreich (siehe Grafik), wo im Frühling ebenfalls zigtausende Tote zu beweinen waren. Spanien meldete Donnerstagabend 10.653 Neuinfektionen (binnen 24 Stunden), obwohl in Madrid seit Montag ganze Stadtviertel abgeriegelt sind und am Freitag neue hinzukamen. Mittlerweile patrouilliert das Militär, um die Ausgangssperren durchzusetzen.
Auch Frankreich zog angesichts von 16.096 Neuinfektionen am Donnerstag die Schrauben weiter an. Am härtesten trifft es Marseille und sein Umland: Ab heute, Samstag, gilt dort ein zweiter Lockdown. Alle Restaurants, Bars und öffentlich zugängliche Einrichtungen, die laut Behörden kein „strenges Gesundheitsprotokoll“ haben, müssen zusperren. In der Hafenstadt protestierten am Freitag Hunderte wütende Gastronomen dagegen. Der Präsident der Region will gegen die von Paris diktierten Einschränkungen juristisch vorgehen. Er sieht darin eine „kollektive Bestrafung“ für die rund 1,9 Millionen Menschen im Ballungsraum Marseille.
„Brave“ Italiener
Warum die aktuelle Lage in Frankreich und Spanien so viel schlechter ist als in Italien, dazu gibt es noch keine wissenschaftlichen Studien. „Vielleicht ist es nur Zufall, oder wir hatten zuletzt einfach nur Glück“, sagt die in Padua lebende Claudia. Da sie heuer in keinem der beiden Länder war, könne sie nicht vergleichen, ob die Menschen dort weniger diszipliniert sind wie die Italiener. „Ich bin selbst überrascht, dass wir so brav geworden sind und die neuen Regeln durchgezogen haben“, gesteht die 52-jährige Lehrerin.
„Wir waren und sind aber auch erschöpft von der Zeit des Lockdown. Der Generation 40-plus war und ist nicht zum Feiern.“ Sie selbst gehe nach wie vor nicht in Lokale essen. Eine Registrierung ist übrigens in Italien nicht verpflichtend vorgeschrieben, „aber vielleicht kommt das noch, wenn sich alles nach innen verlegt. Jetzt sitzen ohnehin noch alle im Freien.“
Tests vor Schulbeginn
Die Schulen konnten nach sechs Monaten endlich gestaffelt im September wieder aufsperren. Zuvor boten die Behörden allen Lehrern und Schülern einen freiwilligen Schnelltest an, den auch tatsächlich sehr viele gemacht haben. Auch in den Schulklassen werden die Abstandsregeln penibel eingehalten: Rechtzeitig georderte Großaufträge für Einzeltische machten es möglich.
Maskenpflicht ist in Italien kein Thema, daran halten sich ohnehin so gut wie alle. Dort, wo die Infektionen wieder ansteigen, wurden die Regeln noch verschärft: In Genua sowie in der Provinz Kampanien muss in den nächsten Wochen auch im Freien ein Mund-Nasen-Schutz getragen werden.
Nie mehr wieder
Unter allen Umständen wollen die Italiener vermeiden, nochmals erleben zu müssen, dass sie ihre Häuser nur in einem Mini-Radius für die allernötigsten Besorgungen verlassen dürfen – samt schriftlicher Erklärung, kontrolliert vom Militär. „Dagegen war das in Wien ein Lercherlschas“, formuliert es eine seit vielen Jahren in Wien lebende Italienerin drastisch.
Manch einem Italiener blieb zuletzt die Spucke weg, als er vom britischen Premier Boris Johnson diese Woche hörte, dass in Großbritannien die Zahlen im Vergleich zu anderen Ländern wie Italien deswegen höher seien, weil Großbritannien „ein freiheitsliebendes Land“ sei. Staatspräsident Sergio Mattarella konterte prompt: „Auch wir Italiener lieben die Freiheit, doch uns liegt auch Ernsthaftigkeit am Herzen.“
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