"Mosul Eye": Gefährliche Einblicke in die "Hauptstadt des IS"

Irakische Truppen auf einer Patrouille in einer Vorstadt Mossuls.
Seit zwei Jahren berichtet ein anonymer Blogger unter Lebensgefahr aus der Stadt im Nordirak. Die Offensive gegen Mossul sieht er dennoch kritisch.

10. Juni 2014 – nach tagelangen Gefechten nehmen Kämpfer des IS die Millionenstadt Mossul ein.

Öffentliche Exekutionen, Schikanen und drakonische Strafen gehören seitdem zum Alltag der 2,8 Millionen Bewohner. Eine Situation, die sich seit Beginn der Offensive gegen die "Hauptstadt des IS" offenbar noch einmal zugespitzt hat.

"IS exekutierte heute Morgen 23 Häftlinge";

"IS hat alle Brücken in Mossul mit Sprengstofffallen vermint."

So lauten aktuell die Meldungen auf einer Facebook-Seite namens "Mosul Eye".

Seit zwei Jahren berichtet unter diesem Pseudonym ein "unabhängiger Historiker", so seine Selbstbeschreibung, vom Alltag in der besetzten Stadt.

Er ist damit einer der wenigen Nachrichtenquellen, die nicht vom IS kontrolliert werden. Für Nachrichtenkorrespondenten ist die irakische "Hauptstadt des IS" längst eine No-Go-Area. 2015 wurden in Mossul 48 Journalisten entführt, 13 davon ermordet (Link: Bericht von Reporter ohne Grenzen).

Schon wer als Bewohner mit Laptop, Handy oder SIM-Karte erwischt wird, dem droht die Exekution.


Eintrag vom 19. September 2014

IS-Kräfte bewegen sich offen in ganz Mossul, während Flugzeuge über der Stadt kreisen. (...) Abu Mohammed Al-Adnani, ein Mitarbeiter des Kalifen, befindet sich in Mossul; sein genauer Aufenthaltsort ist unbekannt. Informanten berichten mir, dass er vergangenen Mittwoch in Mossul ankam und sich mit IS-Anführern und Vertrauten von Stammesführern traf. Der Friedhof der Stadt in Karama wurde vom IS vollständig blockiert, als seine Mitglieder ihre Toten begruben. Der IS hat ein Dekret mit dem Titel "Unterstützung für den Islamischen Staat gegen die Ungläubigen, Abtrünnigen und Zweifler ist eine der heiligsten Aufgaben" veröffentlicht. Es beinhaltet verschiedene religiöse Verse und Schriften, die ausführen, dass die Unterstützung des IS verpflichtend ist, sowie die Aufforderung, die IS-Truppen in ihrem Kampf gegen kurdische Kräfte zu unterstützen.



"Die Angst entdeckt zu werden, ist immer präsent", sagt "Mosul Eye" in einem Interview mit dem Magazin New Yorker. Auch jetzt noch, da die Niederlage des IS in greifbare Nähe gerückt scheint, wache er oft mitten in der Nacht auf und überlege sich fieberhaft neue Verstecke für seine Bänder. Um unauffällig zu bleiben, gehe er jeden Tag mehrere Stunden in die Moschee und spiele den "frommen Gläubigen". Eine überlebenswichtige Vorsichtsmaßnahme. 2015 habe er eine Nachricht erhalten, in der ihm der IS drohte, ihn auf eine Art zu töten, "wie sie die Menschheit noch nicht gesehen hat."

"Unabhängiger Historiker"

"Dieser Blog wurde von einem unabhängigen Historiker eingerichtet, um dem Rest der Welt zu berichten, was in Mossul passiert – Minute für Minute", steht seit 2014 über jedem der Einträge auf Facebook.

Die Unabhängigkeit, sie gilt für "Mosul Eye" in alle Richtungen. Der Einschätzung westlicher Medien, die spätere Hochburg des irakischen Widerstands sei schon immer eine von den Sunniten dominierte Stadt gewesen, widerspricht er vehement. "Das steht im Widerspruch zu den historischen und gesellschaftlichen Fakten", zitiert ihn die Zeit. Charakteristisch für Mossul sei immer die harmonische Koexistenz der Religionen und Ethnien gewesen. Das habe sich erst mit Saddam Hussein, der die sunnitischen Stämme mit ihrer extrem autoritären Struktur aufwertete, geändert.

Auch falsche Horror-Meldungen über angebliche neue Gräueltaten des IS dementiert "Mosul Eye". Die Meldung von FOX News, wonach der IS jesidische Mädchen bei lebendigem Leib verbrannt habe, dementierte "Mosul Eye" umgehend.


Eintrag vom 7. Juni 2016

Investigate - then propagate: Untersuchen - dann verbreiten. Internationale Medien geht es nicht um Wahrheit, sondern um einen Scoop (~Exklusivmeldung) - ohne die Konsequenzen dabei zu bedenken. (...) Seit gestern verbreiten Medien die Nachricht, der IS würde jesidische Mädchen verbrennen, nachdem diese von eine "unbekannten und fragwürdigen" Quelle ohne jegliche Glaubwürdigkeit verbreitet worden war. (...) Es tut weh, solche Nachrichten durch angesehene Medien verbreitet zu sehen, während Mossul Eye seit zwei Jahren daran arbeitet, dass die Nachrichten, die wir verbreiten, auch gesichert sind. (hier geht's zum gesamten Eintrag auf Englisch)



Die Realität ist ohnehin schlimm genug.

In langen Listen sind die Namen jener Männer zu lesen, die vom IS hingerichtet worden sind. In Zeichnungen dokumentiert "Mosul Eye" Methoden der Folter und der Haft, auf Stadtplänen Sprengfallen, Checkpoints und Munitionsdepots. Die Zeit vermutet deshalb, dass hinter dem Pseudonym nicht nur ein einziger Betreiber stecken könnte.

Was kommt nach dem IS?

Wie es mit "Mosul Eye" weitergeht, wenn der IS erst einmal aus der Stadt vertrieben ist? Auch hier hat "Mosul Eye" eine differenzierte Antwort parat. Selbst wenn die Vertreibung des IS erfolgreich sein sollte, will er seine Stadt weder der irakischen Regierung, noch der Armee, die am Dienstag erstmals die Stadtgrenzen Mossuls überquerte, überlassen.

"Die meisten Fragen unter den Mossulis drehen sich um Folgendes: Wer wird in die Stadt eindringen? Was wird mit uns passieren? Wird es den Milizen erlaubt, die Stadt zu betreten? Wer wird sie aufhalten, wenn sie versuchen, nach Mossul hereinzukommen?"

Gemeint sind die gefürchteten Hashd al-Shaabi-Milizen, die aktuell als Verbündete der irakischen Armee gegen den IS kämpfen. Die ausschließlich aus Schiiten rekrutierten Milizen sind unter Sunniten wegen ihrer Racheakte gegen die Bevölkerung verhasst. Sollten sie in Mossul einziehen, fürchten viele ein Massaker. In einem Eintrag vom 12. Oktober, also vier Tage nach Beginn der Offensive, appellierte der Blogger in einem offenen Brief an die internationale Gemeinschaft, seine Stadt deshalb unter internationale Treuhandschaft zu stellen. Nur so würde sie sich nach all der Gewalt und der Massenvertreibung von Christen, Jesiden und Schiiten wieder zu dem entwickeln können, was sie früher einmal war.
"Heute schreibe ich nicht über meine Furcht. Heute schreibe ich über meine Träume", heißt es im aktuellen Posting. "Über Träume, die sich in meinem Leben vielleicht nicht mehr erfüllen."

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