Trauer um getöteten Nemzow
Ich bin Boris. Staatsmacht, schieß auf mich!" Ungelenk und mit blauem Filzstift hat eine nicht mehr junge Frau die Worte auf ein Schild gemalt, das sie auf der Brust trägt. Ein Pfeil zeigt dorthin, wo das Herz sitzt. Die mit Pelz besetzte Kapuze hat sie tief in das todernste Gesicht gezogen.
Der Uralt-Traum russischer Regimegegner von einer Protestdemonstration direkt an der Kremlmauer ist gestern Nachmittag in Erfüllung gegangen. Aber nicht als Triumphzug, sondern als Trauermarsch. Zum Gedenken an den am Freitagabend ermordeten Oppositionsführer Boris Nemzow.
Mit dem Mord, warnte die Publizistin Julia Latynina, eine erbitterte Gegnerin von Kremlchef Wladimir Putin, beim kritischen Radiosender Echo Moskwy, sei in Russland ein neues Zeitalter angebrochen: Die "Ära der physischen Vernichtung von politischen Gegnern des Regimes". "Ich habe keine Angst" stand daher auf vielen Plakaten. Andere trugen überlebensgroße Fotos von Nemzow, über dem Zug wogte ein Meer aus weiß-blau-roten Flaggen – Russlands Trikolore.
"Russland ohne Putin"
Zwar hatte die Stadtregierung von Moskau von den Organisatoren verlangt, auf das Skandieren politischer Losungen zu verzichten. Vereinzelt waren dennoch Rufe wie "Russland ohne Putin" oder "Russland wird frei sein" zu hören. Nur sehr wenige griffen die Parolen auf. Sie wurden übertönt vom Klacken der Stiefelabsätze auf dem Asphalt – nahezu das einzige Geräusch während des dreistündigen Marsches.
Die Angaben zu Teilnehmerzahlen sind widersprüchlich. Die Polizei will 16.500 Teilnehmer gezählt haben. Ex-Premier Michail Kasjanow, wie Nemzow Ko-Vorsitzender der oppositionellen, nicht im Parlament vertretenen neoliberalen Partei RRP-PARNASS, sprach dagegen von 50.000 Teilnehmern. Unabhängige Beobachter zählten ca. 22.000 Demonstranten.
Weggefährten von Nemzow standen noch immer unter Schock. Irina Hakkamada, die Eiserne Lady der Neoliberalen und über Jahre engste Vertraute von Nemzow, kämpfte mit den Tränen. Sogar politische Gegner zollten ihm Respekt. Regierungschef Dmitri Medwedew nannte Nemzow einen der begabtesten Politiker, den Russland in der Zeit der Übergangsgesellschaft hatte. Prinzipienfest habe er bis zum letzten Atemzug für seine Überzeugungen gekämpft. Sergei Mitrochin, der Chef der sozialliberalen Jabloko-Partei, bezeichnete den Mord und dessen Aufklärung als "Herausforderung für Macht und Opposition".
Putin hatte sich bereits Samstag ähnlich geäußert. Man werde die Mörder finden und bestrafen. Dennoch konnten die Fahnder bisher keine nennenswerten Fortschritte melden. Inzwischen geht die staatliche Ermittlungsbehörde von mehreren möglichen Tatmotiven aus. Verdächtig seien auch islamische Extremisten. Nemzow gehörte nach dem Anschlag auf das Pariser Satire-Magazine Charlie Hebdo zu den wenigen in Russland, die die Mohammed-Karikaturen vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sahen und hatte von Radikalen Drohungen erhalten.
Regimekritiker fürchten, diese Version werde aus taktischen Gründen letztendlich die Oberhand gewinnen, um falsche Fährten zu legen und die wahren Auftraggeber zu schützen. Dafür spricht aus ihrer Sicht auch, dass es bisher angeblich nicht einmal Hinweise zu den gedungenen Killern gibt. Am Tatort, unmittelbar in Kremlnähe gelegen, würden nicht Dutzende, sondern Hunderte Kameras jede Bewegung erfassen und festhalten, glaubt Publizistin Latynina. Auch seien die Mörder absolute Könner gewesen. Keiner der insgesamt acht Schüsse, die auf Nemzow abgefeuert wurden, habe die Frau an seiner Seite – eine Bekannte aus der Ukraine – getroffen.
In einer echten Demokratie hätte es Boris Nemzow (55) vielleicht bis zum Präsidenten schaffen können. Doch mit der Machtübernahme Vladimir Putins im Jahr 2000 war es mit der politischen Karriere für den studierten Strahlenphysiker, der es immerhin zum russischen Vizepremier gebracht hatte, für immer vorbei: Als Mitbegründer der liberalen Partei „Union der rechten Kräfte“ wurde er von den Staatsmedien totgeschwiegen, persönlich schikaniert und diffamiert, seine Partei mit bürokratischen Hürden eingedeckt. Als er 2011 versuchte, eine neue Partei zu gründen, wurde ihm dies von den Behörden zunächst überhaupt verweigert.
Bei Wahlen in Russland, aus seiner Sicht „eine Farce“ wollte er mehrmals nicht kandidieren. Doch seinen Kampf gegen den „Putinismus“ gab der vierfache Familienvater deshalb nicht auf. Nemzow organisierte Demonstrationen, protestierte, schrieb Pamphlete und prangerte die Korruption im Land an. Als einer der wenigen offenen Putin-Kritiker war Nemzow weder in Haft noch in Hausarrest oder im Exil.
Angst hatte er trotzdem, nicht zuletzt deshalb, weil er unentwegt die Annexion der Krim und den „Krieg Putins in der Ukraine“ anprangerte. „Ich fürchte, dass mich Putin umbringen wird“, schrieb der als charismatisch und extrem redegewandt geltende Nemzow knapp drei Wochen vor seiner Ermordung. Unter den wenigen russischen Oppositionellen war der einstige Günstling des früheren Präsiden Boris Jelzin für liberal gesinnte Russen die einzige Identifikationsfigur: Unerschrocken, authentisch, zuweilen derb, vor allem aber nicht radikal-nationalistisch
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