Zerrissen zwischen großer Rolle und kleiner Heimat
Mit ernster Miene steht Werner Faymann vor dem Ratsgebäude in Brüssel, wo die Staats- und Regierungschefs der EU gerade stundenlang beraten haben. Es ist spät, Faymann spricht von Atomkraft, Syrien-Konflikt, Euro-Schutzschirm, er ist voll konzentriert, als er von hinten eine handvoll Akten auf den Kopf bekommt. Er zuckt kurz zusammen, dreht sich um – und lacht. Seine Mimik sagt: Ach so, er war’s; kein Problem, er darf das. Er, der dem Kanzler vor laufender Kamera eins überbraten darf, ist Jean-Claude Juncker.
Juncker, 58, gehört in Brüssel zum Inventar: Als Finanzminister Luxemburgs war er ab 1989 am Aufbau des Euro beteiligt; als erster Vorsitzender der Eurogruppe leitete er von 2005 bis 2013 die Treffen der Kassenhüter, wurde zum Krisenmanager und „Mister Euro“. Bei EU-Gipfeln ist keiner so lange dabei wie er – 18 Jahre. Seit 1995 ist Juncker Regierungschef in Luxemburg. Bei der morgigen Wahl werden Menschen ihre Stimme abgeben, die in seiner Regierungszeit geboren wurden.
Junckers christlich-soziale Volkspartei dürfte wieder Nummer eins, er selbst wieder Premierminister werden. Doch die Unantastbarkeit, die er einst hatte, ist weg; es gibt jetzt immer mehr Menschen, die sich vorstellen können, dass das Großherzogtum auch einmal nicht mehr von ihm regiert wird.
Juncker hat Luxemburg auf europäischer Ebene ein Gesicht gegeben, ihm mehr Stimme und (gefühlte) Macht verliehen, als dem zweitkleinsten Land der EU sonst zugestanden würde. „Mit mir seid ihr wer“ – das war stets sein Bonus. Als „großer Europäer“ wird er in Berlin und Paris gelobt; zu Hause sehen sie sein EU-Engagement auch kritischer.
Hat er den Laden noch im Griff?
Die Finanzkrise hat das Bankenzentrum erreicht, es kommen Fragen auf: Hat sich Juncker zu viel um das große Europa, zu wenig um die kleine Heimat gekümmert? Der Auslöser für die vorgezogenen Neuwahlen verstärkt die Sorge, er habe den Laden nicht mehr im Griff: Eine Affäre des Geheimdienstes, der formal Juncker untersteht. Der hat die Sache anfangs offenbar unterschätzt, sich – das gibt er selbst zu – in den letzten Jahren nicht sehr intensiv um die Behörde gekümmert.
Und dann ist da noch die Europa-Frage, die immer im Wahlkampf auftaucht: Wird Juncker Premier bleiben – oder lieber einen Spitzenjob in Brüssel annehmen? 2004 hätte er Kommissionschef werden können. Bekniet habe man ihn, erzählen manche. Doch Juncker blieb, so wie auch 2009.
Was laut hochrangigen Konservativen in Brüssel beide Male eine Rolle gespielt haben könnte: Die Europa-Wahlen, die das Brüsseler Jobkarussell auslösen, fanden am selben Tag statt wie die Parlamentswahlen in Luxemburg; auch 2014 wären sie wieder zusammengefallen. Zu dreist wäre es, bei dieser zeitlichen Konstellation den Verbleib zu Versprechen und dann zu gehen. Folgt man dieser Logik, könnte Juncker von den vorgezogenen Wahlen, die ihm angelastet werden, sogar profitieren: Wieder sagt er, er wolle nicht nach Brüssel. Doch diesmal sind es noch sieben Monate bis zu den Europa-Wahlen Ende Mai.
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