Migration: Warum Afrikaner den Weg nach Europa suchen

Die Digitalisierung bringt die Welt des reichen Nordens in das entlegenste Dorf - und schafft Träume von einem besseren Leben.

Viele sterben in der Wüste, ausgesetzt von skrupellosen Menschenhändlern. Andere, die es bis ans Mittelmeer geschafft haben, ertrinken bei der Überfahrt auf den „gelobten“ Kontinent – 1500 waren es bereits alleine in diesem Jahr. laut UNHCR. Wieder andere kommen tatsächlich an in ihrer Endstation der Sehnsucht – Europa. Letztere sind es, an denen sich Abermillionen, zumal junge Afrikaner orientieren und sich auf die gefährliche Reise begeben. Der Direktor der Hilfsorganisation CARE im zentralen Transitland Niger, Ely Keita, brachte es im KURIER-Gespräch auf den Punkt: „Für die Migranten ist in Europa das Gras einfach grüner.“

Rund 1,2 Milliarden Menschen leben derzeit in Afrika, in gut 30 Jahren werden es doppelt so viele sein. In Burkina Faso, Mali oder dem Tschad explodieren die Bevölkerungszahlen gleichsam und werden sich bis 2050 verdreifacht haben. Und vier von zehn Afrikanern sind jünger als 15 Jahre. Dementsprechend wird der Migrationsdruck aus Subsahara-Regionen und der Sahelzone steigen.

Wilde Zahlen geistern herum. So geht Stephen Smith von 150 Millionen Menschen aus, die sich bis 2050 nach Europa aufmachen könnten. Der Amerikaner bereist seit 40 Jahren den Kontinent, leitete die Afrika-Abteilung des französischen Qualitätsblattes Le Monde und lehrt an der Duke University im US-Bundesstaat North Carolina Afrikanistik.

Migration: Warum Afrikaner den Weg nach Europa suchen

Mittelschicht geht

Laut dem US-Forschungsinstitut Pew Research würden drei Viertel aller erwachsenen Nigerianer oder Ghanaer auswandern, wenn sie die Mittel dazu hätten, rund 40 Prozent dieser Bürger haben bereits konkrete Pläne entwickelt, ihre Heimat innerhalb der kommenden fünf Jahre zu verlassen.

Selbst im politisch stabilen Tansania tragen sich 43 Prozent der Menschen mit dem Gedanken, das entspricht in etwa dem Durchschnittswert aller afrikanischer Staaten. Derzeit gibt es bereits etwa 23 Millionen Migranten und Vertriebene auf dem Kontinent, zwei Drittel blieben in der Region.

Dabei sind es nicht die Allerärmsten, die sich auf den Weg machen. „Es sind häufig Personen, die oberhalb der Armutsgrenze leben oder der afrikanischen Mittelschicht angehören“, schreiben Wolf Krug und Marlene Barnard in einem einschlägigen Beitrag für die deutsche Hans Seidel Stiftung. Das starke Wirtschaftswachstum in einigen Ländern habe die Mittelschicht zuletzt deutlich anwachsen lassen.

Migration: Warum Afrikaner den Weg nach Europa suchen

Oftmals ist es aber auch so, dass eine gesamte Großfamilie eines Dorfes zusammenlegt, um einem Mitglied (meist handelt es sich um junge, kräftige Männer) die illegale Passage zu finanzieren – in der berechtigten Hoffnung, dass bei einem glücklichen Ende des Trips Rücküberweisungen erfolgen (siehe rechts unten). Dass der Tod ständiger Reisebegleiter ist, wird einfach in Kauf genommen. Stephen Smith hat errechnet, dass das Risiko, 2015 im Mittelmeer zu ertrinken, bei 0,37 Prozent lag – die statistische Wahrscheinlichkeit für eine südsudanesische Mutter, bei der Geburt zu sterben, sei aber vier Mal so hoch.

Die Gründe, warum so viele Afrikaner von Europa träumen, sind vielfältig und werden vor allem von einem Faktor angeschoben – der Digitalisierung. Die Welt des reichen Nordens ist via Handy nun im entlegensten Dorf abrufbar, auch wenn nicht alles glänzt, was so golden scheint, zieht diese Illusion ganz viele magisch an.

Und das sind konkret die Fluchtursachen:

  • Bewaffnete Auseinandersetzungen

Die Zeit der großen Bürgerkriege in Afrika, etwa in Angola oder Mosambik, ist zwar vorüber, aber die lokale Bevölkerung leidet unter begrenzten Konflikten. Im Osten des Kongos kämpfen rivalisierende Milizen um Einflussgebiete und Bodenschätze. Im jüngsten Staat der Welt, dem Südsudan, sprechen trotz mehrerer Friedensanläufe weiterhin die Waffen, es geht um die Vorherrschaft im Land. Und in Äthiopien wurde zuletzt bei Stammeskämpfen eine Million Menschen vertrieben.

  • Terror

Vor allem islamistische Milizen verbreiten Angst und Schrecken. Im Norden Malis sind sie aktiv, sickern bisweilen auch nach Niger ein. Letzterer Staat ist ebenso wie Teile des Tschads Aufmarschgebiet der Dschihadisten-Truppe Boko Haram, jener Gruppe, die vor allem den Norden Nigerias terrorisiert und immer wieder Menschen verschleppt. In Somalia wiederum wüten die selbst ernannten Gotteskrieger von El Shaabab.

  • Autoritäre Regime

Hier ist vor allem Eritrea zu nennen, woher viele Asylwerber in Europa stammen. Hoffnung keimt jetzt allerdings, nachdem der Staat Frieden mit seinem Erzrivalen Äthiopien geschlossen hat. Wobei auch dort die Rechte der Opposition mit Füßen getreten werden. Alles andere als demokratisch geht es auch im Kongo zu.

  • Armut

Global ist die Zahl der Allerärmsten (maximal 1,9 US-Dollar pro Tag) auf zehn Prozent der Weltbevölkerung gesunken, doch in einem Negativ-Ranking aller Länder rangieren auf den ersten 24 Rängen ausschließlich Subsahara-Staaten. Selbst im ölreichen Nigeria fristet jeder Zweite ein elendes Dasein.

  • Keine Job- und Wirtschaftsperspektive

Der durchaus beachtliche ökonomische Aufschwung in einzelnen Ländern und Regionen ist bei den meisten Menschen nicht angekommen. Es fehlt an Jobs, zumal auf Grund der demografischen Entwicklung ständig junge Menschen auf den Arbeitsmarkt drängen. In Simbabwe etwa sind 90 Prozent aller Erwerbsfähigen arbeitslos, selbst im wirtschaftlich starken Südafrika liegt dieser Wert bei annähernd 30 Prozent. Dazu kommt, dass die lokalen afrikanischen Agrarprodukte gegen subventionierte EU-Importware nicht konkurrenzfähig sind und internationale Flotten die Fischbestände vor den Küsten Afrikas leeren.

  • Klimawandel

Die Auswirkungen des erderwärmenden Treibhauseffekts sind in Afrika massiv spürbar. Die Sahara breitet sich beständig Richtung Süden aus und raubt den dort lebenden Bauern die Lebensgrundlage. Dazu kommen Extremwetterlagen wie Dürren und Überschwemmungen, die immer mehr Menschen zu Klimaflüchtlingen machen. Laut Weltbank könnten es allein in den Subsahara-Regionen bis zum Jahr 2050 an die 90 Millionen sein.

  • Landraub

Da viele Regierungen die besten Ackerflächen an ausländische Konzerne und andere Staaten verscherbeln, fehlen diese dann für die einheimische Bevölkerung. So werden in Äthiopien etwa Blumen für den europäischen Markt gezüchtet. China, Saudi-Arabien, Südkorea und andere potente Länder haben ihre Landwirtschaftsproduktion teilweise nach Afrika ausgelagert.

Für die Staaten des Südens bedeutet dieser Massenexodus einen enormen Verlust an Know-how. Denn wenn Ärzte oder Techniker gehen, fehlen sie im Land. Wenn diese sich dann in Europa etwa als unterbezahlte Erntehelfer verdingen (müssen), kommt zum „Brain Drain“ (Abfluss von Wissen) auch ein „Brain Waste“ (Wissensvergeudung).

Langfristig, da sind sich alle Experten einig, sind die Migrationsbewegungen Richtung Norden nur durch Wirtschaftshilfe vor Ort zu stoppen. Damit die Menschen Jobs und damit Einkommen bzw. Perspektiven haben und sich nicht mehr gezwungen sehen, ihrer Heimat den Rücken zu kehren. Im KURIER-Gespräch forderte Caritas-Präsident Michael Landau in diesem Kontext einen „Marshall-Plan“ für Afrika.

Rücküberweisungen von Migranten halten  Länder über Wasser

Auch wenn afrikanische Migranten in Europa oder den USA meist sehr schlecht bezahlte Jobs haben – ihre paar Euro und Dollar, die sie ansparen können und dann an ihre Verwandten in der Heimat rücküberweisen (remittances) sind dort viel Geld und können sich sehen lassen. Laut Weltbank kamen im Vorjahr global gesehen 450 Milliarden US-Dollar zusammen, in Subsahara-Regionen  gingen an die 40 Milliarden Dollar.

Das hilft nicht nur den Daheimgebliebenen, ganze Volksökonomien leben zu einem Gutteil davon. Womit die Regierungen wenig Interesse haben, die Wanderungen zu stoppen und sich selbst von dieser Einnahmequelle abzuschneiden, zumal die Entwicklungshilfemittel an diese Summen bei weitem nicht heranreichen.

Migration: Warum Afrikaner den Weg nach Europa suchen

In Liberia etwa tragen die Gelder der „Gastarbeiter“, die ja dann in die nationale Wirtschaft eingespeist werden,  zu 27 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei (siehe Grafik rechts oben). Im Bürgerkriegsland Somalia soll der Wert gar bei 40 Prozent liegen. In Absolutzahlen wird am meisten nach Nigeria transferiert. Laut Weltbank finanziert das an sich reiche Ölland ein Drittel seiner Importe über diese ausländische Quelle.

Tragisch und bizarr gleichermaßen: Autoritäre Regime  überleben auch dadurch, dass sie ihre Bürger gleichsam exportieren. Denn jeder, der vor repressiven Strukturen flieht und  Geld rücküberweist, unterstützt damit unfreiwillig und indirekt seine früheren Peiniger in der alten Heimat.

 

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