Der Österreicher Volker Türk ist UNO-Hochkommissar für Menschenrechte – und erzählt über infrage gestellte Grundnormen, Gespräche, wo man sie nicht erwartet, und internationalen Druck.
Kommen die Menschenrechte auf unserer Welt immer mehr unter die Räder – 75 Jahre nach der UNO-Menschenrechtserklärung, 30 Jahre nach der Wiener Menschenrechtskonferenz? Der KURIER fragte anlässlich eines hochkarätig besetzten Symposiums kommende Woche in Wien den UNO-Menschenrechtskommissar.
Fangen wir einmal anders an: Wo auf der Welt hat sich denn die Menschenrechtslage in den vergangenen Jahren deutlich verbessert?
Volker Türk: (Pause) Da muss ich nachdenken. Es hat in Lateinamerika, Mexiko, Argentinien, positive Entwicklungen gegeben, was Dekriminalisierung von Abtreibungen betrifft, auch in Sierra Leone, Sambia, Malaysia, wo die Todesstrafe abgeschafft oder fast abgeschafft wurde.
Weit im aufgeklärten 21. Jahrhundert präsentiert sich die Menschenrechtslage weltweit immer düsterer – ist das nur eine mediale Wahrnehmung, oder stimmt das?
Seit 9/11, den Attentaten in New York 2001, wurde es schwieriger, sowohl im globalen Süden als auch im Norden. In den USA hat man zum Teil sogar das Folterverbot in Frage gestellt, wir haben Guantanamo gesehen (Gefangenen-Lager für Terroristen ohne Verurteilung, Anm.), wir haben gesehen, was im Irak, in Afghanistan passiert ist.
Vorher war’s besser?Das war für mich ein Wendepunkt. Erinnern Sie sich: 1993 die große Konferenz für Menschenrechte in Wien, Aufbruchstimmung, da hat man gedacht, wir erobern die Welt.
Keine zehn Jahre später war’s vorbei mit dem Aufbruch?
Da hat die Erosion von rechtsstaatlichen Prinzipien und eine Infragestellung von Grundnormen begonnen. Zuletzt kamen geopolitische Spannungen dazu.
Was haben die mit Menschenrechten zu tun?
Dass man den Eindruck hat, dass Menschenrechte getreten werden, um jemandem anderen ins Gesicht zu schlagen. Es ist eine schwere Verletzung der Menschenrechte und das Völkerrechts, was in der Ukraine passiert. Aber auch abseits davon, schauen Sie Uganda mit der Kriminalisierung der Homosexualität an, eines der schrecklichsten Gesetze auf der Welt. Wenn das kritisiert wird, wird entgegnet: Das ist westliches Gedankengut, das hat nichts mit uns zu tun. Das zerstört die Universalität der Menschenrechte.
Gibt es diese Universalität ?
Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Menschenrechte nicht als etwas „Westliches“ angesehen werden, sondern als etwas, das alle verbindet.
Aber es gibt doch Gesellschaften und Kulturen, wo Menschenrechte nicht den Stellenwert haben und nie hatten, den sie bei uns haben. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 wurde von damals allen Mitgliedstaaten mit Konsens verabschiedet, obwohl acht Staaten sich enthalten haben. Die Wiener Konferenz wurde von damals 171 Mitgliedsstaaten verabschiedet, das enthielt auch die Menschenrechtserklärung.
Das wird von manchen Staatenvertretern verwendet, um Sand in die Augen der Menschen zu streuen. Menschenrechte wurde von verschiedenen Revolutionen genährt, der französischen, der amerikanischen, dem Sklavenaufstand in Haiti 1791, der Arbeiterbewegung im 19. Jhd., dem Feminismus ...
In China zählt der Einzelne nichts, nur das Kollektiv – das ist per se wenig menschenrechtsfreundlich.
Es stimmt, dass manchmal in China und in Asien gesagt wird, Individualrechte schön und gut, aber es gibt Kollektivrechte. Natürlich erlauben auch die Menschenrechte gewisse Einschränkungen der Freiheitsrechte, zugunsten öffentlicher Gesundheit zum Beispiel, Stichwort Covid. Man kann aber Menschenrechte, wirtschaftliche Rechte, soziale Rechte nicht auseinander dividieren.
Religiös dominierte Regime wie Afghanistan, Iran sehen das anders.
Also gut, die Taliban sind keine anerkannte Regierung und haben sich von jeder internationalen Ordnung völlig verabschiedet.
Aber Iran und Saudi Arabien sind anerkannte Regime.
Mit denen kann ich, anders als mit den Taliban, einen Dialog führen – und tue das auch.
Wo finden die schwersten Menschenrechtsverletzungen statt?
Dort, wo gewalttätige Konflikte stattfinden, das sind gerade 60 Staaten auf der Welt. In der Ukraine durch die russische Aggression natürlich, im Sudan, Syrien, Myanmar. Und wo die organisierte Banden-Kriminalität grassiert, in Zentralamerika und Haiti.
Die Verletzung von Menschenrechten ein Kriegsmittel?
Ja, denken Sie alleine an die Vergewaltigungen in so einem Konflikt.
Was waren die erschütterndsten Eindrücke auf Ihren Reisen?
Haiti und Port-au-Prince, wo 70 Prozent des Gebiets von Gangs kontrolliert werden, ein Mädchen mit Schusswunden, ein anderes, das mehrfach vergewaltigt wurde ... – das sind Schreckensbilder.
Neben Krieg und Gangs ist für Menschenrechtsverletzungen oft der Erhalt der Macht verantwortlich.
Machterhalt gibt es beim Staat, das gibt es im Privaten, das gibt es bei Institutionen – Rassismus zum Beispiel: Es gibt kaum ein Land, das nicht ein Problem mit dem Umgang der Sicherheitskräfte mit Menschen hat, die anders sind.
Bei Machterhalt fällt einem gerade die Türkei ein – wie geht der Kompromiss zwischen Menschenrechtsverletzungen anklagen und mit dem Regime leben müssen? Man muss Menschenrechte immer wieder neu erkämpfen. Die Türkei ist Mitglied des Europarates, hat die europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet und sich damit dem Gerichtshof unterworfen.
Aber bei Kritik werfen die Orbáns und Erdoğans der Welt die Türe zu.
Wenn wir Berichte veröffentlichen, hat das schon eine Wirkung. Auch von Ländern wie Iran, wo ich sehr kritisch war, gibt es das Bestreben, mit uns im Gespräch zu bleiben.
China, das den Bericht Ihrer Vorgängerin über die Uiguren-Lager verhindern wollte, will nicht reden.
Doch, ich bin auch in Kontakt mit der chinesischen Regierung.
Welche Mittel haben Sie, außer die Öffentlichkeit.
Den Menschenrechtsrat mit 47 Mitgliedsstaaten, wir haben 13 Untersuchungskommsisionen zu verschiedenene Ländern, Mynmar, Ukraine, Weißrussland, Syrien, Südsudan etc. laufen. Und manche Dossiers führen zu Strafverantwortung.
Wie groß ist der Druck, den einzelne Regierungen auf Sie auszuüben versuchen?
Der ist immer da. Aber das ist Teil des Jobs.
Die Erklärung
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, eine nicht verbindliche Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen: am 10. Dezember 1948 in Paris verkündet; 48 Ja-Stimmen, 8 Enthaltungen (u.a. Sowjetunion, Saudi Arabien); 30 Artikel (1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Recht geboren), von Verbot der Folter bis Recht auf Wohlfahrt, Eigentum. https://www.menschenrechtserklaerung.de/die-allgemeine-erklaerung-der-menschenrechte-3157/
Zur Person
1965 in Linz geboren, studierte Volker Türk Rechtswissenschaften (Dissertation zu Flüchtlingshochkommissariat), startete Karriere 1991 bei UNO in New York. Es folgten Posten beim UNHCR (Flüchtlingshochkommissariat), dann als beigeordneter Gen.Sekr. bei UNO-Generalsekretär António Guterres; 2015 stv. Flüchtlingshochkommissar; seit Oktober 2022 Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte.
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