Mein Paris: Die Widerspenstige will sich nicht knebeln lassen

Mein Paris: Die Widerspenstige will sich nicht knebeln lassen
Die Anschläge des 13. November haben den Parisern einen Blick in den Abgrund eröffnet. Islamisten zehren schon länger am Miteinander in volkstümlichen Vierteln. Der KURIER-Korrespondent wirft einen persönlichen Blick auf seine Stadt.

Der Tag beginnt, wie inzwischen üblich, mit dem Austausch von Trauermeldungen. Im Aufzug meines Hauses sagt eine Nachbarin: "Haben Sie das schon gesehen? Der Geigenbauer in der Rue des Gatines (eine nahe Gasse) hat geschlossen. Den hat es auch erwischt. Meine Brigitte (die Tochter der Nachbarin) kam ganz aufgelöst aus der Schule, ein Klassenkollege hat seine beiden Eltern verloren."

130 Menschen fielen den Terroristen am 13. November zum Opfer. Alle – bis auf einen – starben in den trendigen und zugleich volkstümlichen Multikulti-Vierteln des Pariser Nordostens. Rechnet man die Verletzten dazu, kommt man auf fast 500 Opfer. Mit den gerade noch Geretteten, die flüchten oder sich verstecken konnten, den Geschockten, den Verwandten und Freunden sind das Tausende Betroffene im engen Umkreis von nur vier Pariser Bezirken.

Im Bistro "Les Oignons" (Die Zwiebeln), nur ein paar Schritte von meinem Haus entfernt, sitzt Stammgast Roland beim Eingang und tippt auf seinem Notebook. Auch er hat eine Tochter, eine Architekturstudentin, die um einen Studienkollegen trauert.

Roland ist Gastronomie-Kritiker bei einem angesehenen linken Kulturmagazin. Er schimpft mit Hingabe über "Geldgier und Kapitalismus", er kann sich über die "Armut und Vernachlässigung der Vororte" in Rage reden. Aber Roland ist auch ein Nachkriegskind, das selbst lange Entbehrungen erleiden musste, und, was die wenigsten wissen, der Sohn eines legendären Pariser Gangsterbosses.

Curry-Gerichte und Pho-Suppen

Vielleicht kommt daher seine urpariserische Verve, mit der er mich oft zum Lachen bringt, auch wenn ich manchmal Einspruch erhebe, weil seine kulinarisch gefärbten Tiraden gegen den islamischen Rigorismus an Intoleranz grenzen: "Als Kinder waren wir schon froh, dass wir überhaupt was ordentliches zum Futtern bekamen. Die Islamisten machen ihre Mätzchen ums Essen. Sie wollen nur mehr Halal-Speisen an den Schulen und in Firmen. Und was kommt dann? Darf man als nächstes indischen Kindern nur mehr Curry-Gerichte servieren und für die Vietnamesen Pho-Suppen anrichten?"

Die Reaktion von Roland nach den jüngsten Anschlägen hat mich überrascht: "Das ist jetzt eine Chance. Jetzt müsste die Polizei den Jungen in den Siedlungen, die da herumdealen, sagen: Aus der Spaß! Jetzt müsst ihr euch entscheiden, ob ihr zu Frankreich haltet oder zu den Monstern. Mein Vater hat mir immer gesagt: Auch bei Unterweltlern gibt es solche und solche. Im Zweiten Weltkrieg gab es Gangster, die für die Gestapo und solche, die für die Resistance gearbeitet haben."

Mutprobe um die Ecke

Dann fällt das Stichwort "Jakubowicz". Roland und ich wissen, worum es geht. Gleich um die Ecke befindet sich eine nicht allzu große Sozialbau-Siedlung, eigentlich ein wunderschönes Ensemble aus Backsteinbauten mit Grünanlagen, das nach einer in Auschwitz umgekommenen Widerstandskämpferin, Helène Jakubowicz, benannt ist.

Eine verkehrsberuhigte Gasse führt durch die Siedlung. Aber Roland und ich wissen, dass dieser bequeme Verbindungsweg zu einem jenseits der Siedlung liegenden Park uns jedes Mal eine Mutprobe abverlangt.

Vermummte Dealer können einem den Weg versperren. "Monsieur, das ist verboten", rief mir einmal ein Halbwüchsiger zu, weil ich eine Wandmalerei auf einer Fassade fotografiert habe, die noch zu meinem Wohnungsensemble gehört, die sich aber bereits am Beginn des Wegs durch die Sozialsiedlung befindet. Dealer hatten den Jugendlichen losgeschickt, weil sie auch diesen Ort als ihr Territorium betrachten und ein Fotografier-Verbot verhängt hatten. Eine Passantin aus der Siedlung, mit islamischem Kopftuch, ergriff für mich Partei: "Er hat doch wirklich nur diese Fassade fotografiert."

Mehrmals sah ich in der Gasse Wanderprediger in Islamisten-Kluft. Ein algerischer Freund, der dort eine Wohnung gemietet hatte, nutzte die allererste Gelegenheit, um auszuziehen. "Wenn die Polizei kam, wurde sie mit Wurfgeschossen aus den Stockwerken traktiert", erzählte er mir: "Das sollen die sich einmal in Algerien trauen!" Die Polizisten hoben Waffenverstecke aus.

Tatsächlich bewegten sich nicht alle, aber viele Dschihadisten ursprünglich an der Schnittstelle zwischen Jugendkriminalität und religiöser Radikalisierung in sozialen Problemvierteln. Ob im nunmehr weltberühmten Brüssler Molenbeek, ob in den Krisenzonen im Großraum Paris, Lille, Toulouse oder Marseille – überall ist eine hochgerüstete und transnational vernetzte Dealer-Szene erwachsen, die ganze Siedlungen beherrscht, mit-ernährt, blutige Fehden untereinander ausficht und der Polizei trotzt.

Etliche der späteren Dschihadisten haben ihre ersten Lehrjahre in denselben Dealer-Cliquen absolviert. Als Kinder und Halbwüchsige wollten sie den älteren Bandenangehörigen nacheifern, dann überboten sie den Gewaltkodex der Älteren – und irgendwann ließen sie das "Business", den Alltag der großen und kleinen Drogengeschäfte und Reibereien, hinter sich zugunsten des ultimativen Trips der Glaubenskrieger.

Sie finden allerdings noch immer in dieser ihnen vertrauten Szene Waffen, falsche Papiere, Unterschlupf. Das ist ihre Stärke und wohl auch Schwäche, weil es in diesem Milieu Leute gibt, denen ihre Geschäfte wichtiger sind, und die daher einen allzu starken Druck der Behörden, wie er jetzt ausgeübt wird, vermeiden wollen.

Verschwörungstheorien sind passé

Die andere Facette ist freilich, dass ein Teil der jungen Menschen in diesen Randvierteln auch für die meisten traditionellen muslimischen Glaubensträger kaum mehr erreichbar sind.

Es mangelt zwar nicht an Imamen und Initiativen muslimischer Bürger, die den nationalen Zusammenhalt Frankreichs gegen den Terror predigen, was auch zweifelsfrei der Haltung der Mehrheit der Muslime entspricht.

Außerdem ist der Effekt der jetzigen Anschläge derartig erdrückend und der bedrohte Personenkreis derartig breit gefächert, dass auch die Verfechter von Verschwörungstheorien ins Hintertreffen geraten sind.

Zumindest haben sie diesmal weniger Echo an den Schulen gefunden als vergangenen Jänner: Damals, nach den Anschlägen gegen Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt, hatten stellenweise Schüler ihre Lehrer in Verlegenheit gebracht mit Behauptungen wie: der "Staat" oder "Israel" hätten die Attentate "inszeniert", nicht alle Toten wären "echte Tote".

Solche Hirngespinste sind jetzt zwar passé. Aber dafür haben sich ultra-pietistische islamische Strömungen festgesogen. So mancher Anhänger dieser religiösen Rigoristen, darunter etliche Konvertiten, finden in strengsten und demonstrativen Ritualen ihr Auslangen. Für einige freilich ist genau das der Übergang zum Dschihad.

"Der Obskurantismus nimmt zu", klagt eine franko-arabische Apothekerin: "Erst gab es Kollegen, die mich nicht mehr umarmen wollten ("Faire La Bise" – die in Frankreich geläufige Begrüßung unter engeren Bekannten). Jetzt wollen sie einer Frau auch nicht mehr die Hand reichen."

Der Werdegang eines der Selbstmordattentäter, der sich in der Bataclan-Konzerthalle in die Luft sprengte, der 28-jährige Samy Amimour, brachte genau diese Thematik an die Öffentlichkeit. Amimour war, bevor er nach Syrien zum "Islamischen Staat" ging, fünfzehn Monate als Busfahrer bei den Pariser Verkehrsbetrieben, der RATP, beschäftigt.

Die Frauen-Phobie der Busfahrer

Ein Gewerkschafter enthüllte, dass sich Zwischenfälle mit islamistischen Busfahrern in den vergangenen fünf Jahren häuften: "Manche weigern sich, einen Autobus zu übernehmen, weil sie gerade dabei sind, im Depot ihr Gebet zu verrichten. Sie wollen weibliche Kollegen nicht mehr grüßen oder sogar einen Bus nicht fahren, wenn beim vorgehenden Turnus eine Frau hinter dem Lenkrad gesessen ist."

Manche dieser Fahrer wurden absichtlich in Siedlungen des nördlichen Pariser Vorortegürtels rekrutiert, um dortige Halbwüchsige zu besänftigen, die die vorbeifahrenden Busse gelegentlich mit Steinen bewarfen.

Dass islamistische Arbeitnehmer ihren Kolleginnen und weiblichen Vorgesetzten den Handschlag und manchmal auch die Zusammenarbeit verweigern, ist auch aus anderen Betrieben bekannt.

Die Pariser Verkehrsbetriebe haben unterdessen, wie etliche weitere französische Unternehmen, eine "Charta des Laizismus" beschlossen, die religiösen Aktivismus vom Arbeitsplatz verbannt – auch auf Drängen vieler besorgter muslimischer Bediensteter.

"Es ist noch nicht zu spät, aber wir, die normalen Muslime, dürfen jetzt nicht mehr die Konfrontation mit den Fanatikern scheuen", sagt Ahmed, Trainer eines Amateur-Fußballvereins in einem nahe liegenden Stadtviertel: "Junge Spieler wollten sich auf unserem Gelände vor und nach allen Matches zum kollektiven Gebet auf die Knie werfen. Damit ist jetzt Schluss. Die meisten verstehen das auch." Den fünf Millionen Muslimen in Frankreich steht ein bitteres, inneres Ringen bevor.

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