Tausende Menschen haben sich eingefunden, wie nun jeden zweiten Freitagabend, auf dem großen Platz der Freiheit in Bratislava. Sie schwenken slowakische Fahnen, Europa-Fahnen. Immer wieder sind die Rufe zu hören: „Wir sind nicht Russland. Wir sind Europa.“ Unübersehbar und unüberhörbar sind die Menschenmassen für jene geworden, die vom angrenzenden, ehemaligen Erzbischöflichen Sommerpalais auf den übervollen Platz blicken.
Dort ist der Sitz der slowakischen Regierung, und von dort steuert Premier Robert Fico mit seiner populistisch-nationalen Koalition einen Kurs, der mehr und mehr Slowaken zu Protesten auf die Straße treibt.
Mehr als 100.000 Menschen wurden auch am Freitagabend wieder zu Demonstrationen erwartet, und das nicht nur in der slowakischen Hauptstadt, sondern auch in mehreren Dutzend anderen größeren und kleineren Städten des Landes.
Auch Adam steht inmitten der größer werdenden Menge auf dem Platz der Freiheit, schwenkt seine blaue EU-Fahne im eisigen Wind. „Ich will nicht, dass meine Slowakei sich immer weiter Russland zuneigt“, sagt er. Am besten wäre, sagt er, wenn Fico zurücktritt und es zu Neuwahlen kommt.
Seit rund eineinhalb Jahren führt der Links-Populist Fico zum vierten Mal die Regierung an, aggressiver, europakritischer, nationalistischer denn je. Den Frontalangriff seiner Koalition gegen die unabhängige Justiz verfolgten die meisten Slowaken noch ohnmächtig.
Attacken gegen die Kulturinstitutionen
Doch dann begann der Kulturkrieg: Quer durch alle kulturellen Institutionen des Landes, vom slowakischen Nationaltheater bis zu kleinen Bezirksmuseen, raste eine Welle der Entlassungen – ersetzt wurden die erfahrenen Kulturprofis durch Verbündete der streitbaren, radikalen Kulturministerin Martina Simkovicova. Ihr Credo: Es darf nur eine rein slowakische Kultur geben – und keine andere. Schluss mit allem, was liberal, ungewöhnlich, woke, links, moralisch bedenklich sein könnte.
Aber den Anstoß für die jüngsten Massenproteste, meint der Schriftsteller und Journalist Michal Hvorecky, „ist die Angst vor immer größerer russischer Einflussnahme.
"Die Angst, dass wir, die Slowakei, nicht mehr als Partner in Europa gesehen werden. Ein Abgeordneter der Regierungspartei Smer ventiliert jetzt sogar schon die Idee, dass es ein mögliches Referendum über den Austritt aus NATO und EU geben könnte“, schildert Hvorecky dem KURIER. „Das beunruhigt hier sehr viel Leute.“
Knapp ein Zehntel der 5,4 Millionen Slowaken hegen Sympathien für Russland, beurteilen die Ukraine und Europa durchwegs kritisch. Doch die große Mitte der Bevölkerung will sich, sagt Hvorecky, „nicht Ost, nicht West“ definieren. Und so brachte der Moskau-Besuch von Premier Fico im Dezember bei Russlands Präsident Putin auch viele, bis dahin eher unbeteiligte Slowaken auf die Palme.
An Andreas Mantel steckt ein blauer Button mit der Aufschrift: "Die Slowakei ist Europa." Sie gehört zu den Organisatorinnen des landesweiten Protests. Ein Protest, von dem Premier Fico behauptet, "ukrainische Agenten" hätten ihn angezettelt. Die "übliche Propaganda", weist Andrea freundlich zurück: "Ich war noch nie Ukrainerin. Ich bin Slowakin, und ich will, dass meine Kinder nicht in einem autoritären Staat aufwachsen. Deswegen bin ich hier."
Mit Fico habe die Slowakei einen 180-Grad-Schwenk vollzogen, sagt auch der Politologe Juraj Marusiak: Keine Waffenlieferungen mehr an die Ukraine, Drohungen, im Windschatten von Ficos Verbündeten gegen Brüssel, Ungarns Premier Viktor Orban, gegen die Russland-Sanktionen zu stimmen.
„Noch sind die Proteste für Fico nicht so gefährlich“, sagt Marusiak, „aber wenn sie länger dauern und dadurch auch der Druck auf seine Koalitionspartner steigt, könnte deren Loyalität schwinden – und die Regierung stürzen.“ Erste Kerben musste Fico schon hinnehmen: Von den 79 Abgeordneten (von insgesamt 150), mit denen seine Dreierkoalition startete, gibt es derzeit nur noch 76. „Die Koalition ist nicht stabil, aber vorerst scheint die Mehrheit gesichert“, glaubt der Politologe.
Denn was Fico unbedingt vermeiden wolle, seien Neuwahlen. „Deswegen hat er eine Kampagne gestartet, um seine Unterstützer zu mobilisieren“: Pro-russisch, vor allem aber Anti-LGBTQ, in der Verfassung sollen künftig die Rechte von gleichgeschlechtlichen Paaren und Transgender eingeschränkt werden – kurz, wie Fico sagt: Eine „Verfassungsbarriere gegen den Progressivismus“ müsse errichtet werden.
Gegen die Summe dieser Entwicklungen, glaubt Autor Hvorecky, „gehen die Menschen jetzt auf die Straße. Bei diesen Protesten geht es um unsere Rolle: Wohin gehören wir? Die Leute wollen eine liberale Demokratie, sie wollen zu Europa gehören, sie wollen freie Medien, eine freie Kultur.“
Der slowakische Autor und Journalist Michal Hvorecky
Wie sehr sich die Proteste auch abseits der Hauptstadt Bratislava, in der weitegehend konservativen Slowakei, ausgebreitet haben, erfuhr Hvorecky zuletzt bei Anti-Fico-Demonstrationen in Banska Bystrica. "In dieser Stadt mit 80.000 Einwohnern waren 10.000 Teilnehmer beim Protestmarsch. Das war hier immer eine Bastion der Regierungspartei Smer. Das ist für Smer also sehr beunruhigend, die Kritik von ausgerechnet dort für die Regierung eine Katastrophe. Der Protest dort war sehr laut und sehr Anti-Fico."
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