"Man ist keinen Schritt weiter als 1995"

Beim jüngsten Anschlag in Sarajewo starben zwei Soldaten
20 Jahre nach dem Dayton-Abkommen sucht das Land seine Identität.

Einschusslöcher an Hauswänden, zerbombte Ruinen neben neuen Shoppingtempeln. Die Menschen bummeln in den Straßen, sitzen in Bars oder Kaffeehäusern, wie in jeder anderen europäischen Stadt. "Pazi Snajper"-Schilder – Achtung Scharfschütze – sind aus Sarajewo verschwunden, Porsche, McDonald’s und internationale Modemarken haben Einzug gehalten. Die Erinnerung an die längste Belagerung der Neuzeit bleibt. Die Rosen von Sarajewo, rote Flecken am Boden, erinnern an Granateneinschläge bei Märkten und auf Gehsteigen.

Muhidin Tutic kennt die Orte, hat das Dauerfeuer gehört und ist zwischen den Straßenzügen gelaufen, um den Scharfschützen zu entgehen. Vor dem Krieg war er Polizist und wohnte über der Polizeiwache. Am Abend des 5. April 1992 war er feiern. Als er in der Früh aufwachte, stand die Polizeistation unter Beschuss. "Ich war wie gelähmt, ich sah die Männer mit ihren Masken, die auf uns geschossen haben", sagt Tutic. Ein ganzes Jahr kämpfte der Bosniake in Sarajewo gegen die bosnischen Serben. Es fällt ihm schwer, über diese Zeit zu reden. Auch er selbst habe "viele böse Dinge" getan – "das war eben der Krieg".

Heute prägen Moscheen das Stadtbild, ebenso wie Gebäude, die in der Wiener Ringstraße stehen könnten, jugoslawische Plattenbauten und moderne Hochhäuser. Etwa 95 Prozent der Bewohner Sarajewos sind Muslime, es gibt Christen und Serbisch-Orthodoxe. Wie viele es genau sind, ist unklar, die vergangene Volkszählung wird seit etwa zwei Jahren nicht anerkannt.

Komplizierter Frieden

Frieden herrscht seit dem Abkommen von Dayton, das am 14. Dezember 1995 unterzeichnet wurde, weitergekommen ist man mit einem der kompliziertesten Regierungssysteme der Welt nicht. Eine einheitliche staatliche Identität gibt es bis heute nicht. Die Schulklassen im Land sind ethnisch geteilt, Sprache, Geschichte und Religion werden unterschiedlich unterrichtet.

140 Minister arbeiten in zwei Verwaltungseinheiten: in der hauptsächlich serbischen Republika Srpska und der Föderation Bosnien und Herzegowina, deren zehn Kantone teils eine bosniakische, teils eine kroatische Mehrheit haben. Der Brčko-Distrikt wird gemeinsam geführt. Korruption sei in allen Teilen ein großes Problem.

"Man ist keinen Schritt weiter als 1995. Es gibt eine Drittel-Parität stur nach Nationalität", erklärt Generalmajor Johann Luif, Force Commander der EU-Truppen in Bosnien. Der Burgenländer führt rund 600 Soldaten, die von der einst 60.000 Mann starken NATO-Truppe übrig sind. Sie beobachten die Lage, helfen bei der Ausbildung des Militärs und beim Beseitigen von Kriegsmaterial, das noch tonnenweise vorhanden ist.

Österreichs Botschafter Martin Pammer ist seit 2013 in Bosnien, die Verbindungen der Staaten sind vielfältig: "In Österreich leben rund 140.000 Bosnier. Österreich ist mit 1,3 Milliarden Euro der größte Investor im Land."

In den vergangenen Monaten häuften sich Anschläge, Polizisten wurden erschossen, Granaten auf Polizeiwachen geworfen. "Eine Demokratie, die nie die Volksmeinung widerspiegelt, die schwache Wirtschaft und die soziale Lage" seien ein fruchtbarer Boden für Extremismus.

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