Doch inzwischen wirft diese Strategie Fragen in dem Land auf, das nach den USA den zweitgrößten Atompark der Welt hat. Das Argument der Zuverlässigkeit trifft nicht mehr zu: Aufgrund von geplanten Wartungsarbeiten sowie Korrosionsschäden an einer Serie von Reaktoren steht fast die Hälfte der 56 Reaktoren still. Die Probleme dauern seit dem vergangenen Winter an.Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck begründete die Engpässe auf dem europäischen Strommarkt unter anderem mit den Problemen in Frankreich, die unabhängig vom Krieg in der Ukraine entstanden seien.
Aufs falsche Pferd gesetzt?
Vor wenigen Tagen kündigte der französische Betreiber EDF an, die Vorhersage für die gesamte Stromproduktion aus Kernkraft für das laufende Jahr deutlich senken zu müssen: Die Produktionskapazität falle in diesem Jahr "historisch gering" aus, ließ der Konzern, der nun wieder ganz verstaatlicht wird, wissen. Im September vereinbarten Macron und der deutsche Kanzler Olaf Scholz einen Austausch angesichts der drohenden Energiekrise: Deutschland liefere Strom nach Frankreich, das dem Nachbarn wiederum mit Gas aushelfen werde.
Dem Energieexperten Yves Marignac von der Vereinigung négaWatt zufolge wird die französische Stromproduktion 2022 auf unter 50 Prozent des Vorjahresniveaus fallen – eine nie da gewesene Situation, die das Land im Winter in Bedrängnis bringen könnte: "Alles wird von möglichen Kältewellen abhängen, denn das französische Stromsystem ist stark dem Heizbedarf unterworfen."
Tatsächlich laufen viele Heizungen elektrisch – Strom galt stets als billig und unendlich verfügbar. Marignac kritisiert die "wachsende Abhängigkeit der Stromsicherheit von einem anfälligen Atompark" und appelliert an die Politik, erneuerbare Energien stärker auszubauen.
Vergessene Versprechen
Das hat Macron zwar versprochen. Bei der Eröffnung des ersten Offshore-Windparks Saint-Nazaire Ende September, dessen Bau bis zur Inbetriebnahme zehn Jahre in Anspruch genommen hat, gab er das Ziel aus, die Verzögerungen beim Ausbau der Wind- und Solarenergie zu verringern. Die Regierung sieht einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Klare Vorgaben für Fristen, so wie von der EU-Kommission gefordert, fehlten darin allerdings. Als einziges EU-Land hatte Frankreich im Jahr 2020 sein selbst gestecktes Ziel von einem Anteil von 23 Prozent für die erneuerbaren Energien nicht erreicht.
Tatsächlich bleibt der Fokus der Investitionen auf der Kernenergie. Die Regierung will nicht nur den Ausbau unter anderem der Offshore-Windkraft stärker antreiben, sondern arbeitet auch an einem Gesetz, um den Bau neuer Kraftwerke zu beschleunigen, indem Verfahrensabläufe vereinfacht werden. Anfang 2023 soll es ins Parlament kommen, wo es voraussichtlich eine Mehrheit für den Ausbau der Kernenergie gibt.
Grundsätzlich lässt Macron keine Kritik an seinem Atom-Kurs zu. Er habe "der Branche ab den ersten Monaten meiner ersten Amtszeit Klarheit verschafft", sagte er bei einer Pressekonferenz. Gerade veröffentlichte er auf Twitter ein zwölf Minuten langes Video, in dem er auf Fragen zum Thema Umweltschutz einging – selbstbewusst, dynamisch und redegewandt wie immer.
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