Macron-Rede zu "Gelbwesten": Zwischen "nicht schlecht" und "Bluff"

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Militante Mitglieder der Bewegung fordern weiter Sturz des Präsidenten. Die EU will die Versprechen im Frühjahr bewerten.

Die EU-Kommission will die finanziellen Auswirkungen der Milliarden-Zusagen von Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron an die "Gelbwesten"-Bewegung erst im Frühjahr bewerten. Es gebe für die Überwachung der Wirtschafts- und Finanzlage der Mitgliedstaaten "ein etabliertes Verfahren", sagte ein Sprecher der Kommission am Dienstag in Straßburg.

"Der endgültige Haushalt" aus Paris werde "im Frühjahr beurteilt, wenn wir unsere Wirtschaftsprognose veröffentlichen". Dies geschieht üblicherweise im Mai. Macron hatte am Montagabend in einer Fernsehansprache unter anderem eine Anhebung des Mindestlohns und Entlastungen für Pensionisten in Aussicht gestellt. Nach Angaben eines Regierungssprechers kosten die neuen Zugeständnisse den Staat "zwischen acht und zehn Milliarden" Euro.

Dem Land drohe deshalb ein neuer Verstoß gegen die EU-Defizitregeln, sagte der Macron-Vertraute und Parlamentspräsident Richard Ferrand dem Sender RTL. Zumindest 2019 werde die Drei-Prozent-Grenze "vorübergehend" überschritten. Macron hatte Brüssel und Berlin zugesagt, das französische Defizit wieder dauerhaft unter drei Prozent der Wirtschaftsleistung zu führen. Dies war im vergangenen Jahr erstmals gelungen. Die EU hatte das Land daraufhin aus dem seit neun Jahren laufenden Strafverfahren entlassen. Für das kommende Jahr rechnete die Regierung in Paris bisher mit einer Neuverschuldung von 2,8 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Reaktionen gemischt

Die Fernsehansprache Macrons ist auf ein gemischtes Echo gestoßen. Gemäßigte Kräfte begrüßten Macrons Versprechen, den Mindestlohn im kommenden Jahr um 100 Euro monatlich anzuheben und die Erhöhung der Sozialabgaben für Pensionisten auszusetzen, die über weniger als 2000 Euro im Monat verfügen.

Doch viele "Gelbwesten" äußerten sich unmittelbar nach der am Montagabend ausgestrahlten und von 21 Millionen Fernsehzuschauern gesehenen Rede an die Nation ablehnend. Sie kündigten an, ihre Verkehrsblockaden fortzusetzen und am kommenden Samstag zum fünften Mal hintereinander landesweit an Demonstrationen teilzunehmen und Macrons Rücktritt zu fordern.

Dem Premierminister Edouard Phillippe fällt die Rolle zu, am Dienstag in der Nationalversammlung die von Macron kurz angerissenen Maßnahmen - und ihre Finanzierung durch den Staat - ausführlich darzulegen. Dazu gehört auch, Überstunden künftig ohne Steuern und Sozialabgaben zu vergüten. Die Auszahlung einer Prämie der Unternehmer an ihre Mitarbeiter zum Jahresende soll auf freiwilliger Basis erfolgen.

Auch "Gelbwesten" geteilter Meinung

An vielen von den "Gelbwesten" besetzten Kreisverkehren schwankte die Stimmung zwischen Enttäuschung, Wut und beißendem Spott. Der "Präsident der Reichen" habe "Krümel" angeboten, um der Revolte den Wind aus den Segeln zu nehmen, hieß es. Das Ganze sei ein "Tropfen auf den heißen Stein", ein "Bluff", eine "Augenwischerei", wenn nicht gar eine "Provokation". Andere "Gelbwesten" fanden dagegen etwa die Erhöhung des Mindestlohns um 100 Euro "nicht schlecht". Auch die Jahresendprämie sei eine "sehr gute Idee".

Von Gewerkschaftsseite gab es kritische Reaktionen. Die CGT erklärte, Macron habe "vom Zorn der Bevölkerung nichts begriffen". Die Gewerkschaft UNSA bedauerte, dass für Beamte nichts vorgesehen sei, die oft nicht viel mehr als den Mindestlohn verdienen. Der Chef der gemäßigten CFDT, Laurent Berger, hatte sich schon vor der 13-minütigen Rede des Präsidenten eine obligatorische Prämie von den Unternehmern gewünscht.

Internationale Pressestimmen zur Rede

Internationale Tageszeitungen kommentieren am Dienstag die Fernsehansprache:

"Le Figaro" (Paris): "Die Zusagen haben einen hohen Preis: Es handelt sich um Milliardensummen, die das Defizit erhöhen, an anderer Stelle Einsparungen nötig machen oder sogar neue Steuern! Aber wenn das der Preis ist, um den Frieden im Land wiederherzustellen, wer soll sich dann beklagen? Die Frage ist, ob dieser von Emmanuel Macron angekündigte neue 'Gesellschaftsvertrag' die Aufständischen davon überzeugt, ihre gelbe Weste wieder im Handschuhfach zu verstauen. Man kann es nur hoffen. Der Verstand gebietet es, und das nationale Interesse erfordert es."

"Le Courrier picard" (Amiens): "Das Problem in dieser Krise ist immer dasselbe: Es sind die 'Gelbwesten', die sagen müssen, ob sie die Worte des Präsidenten annehmen. Diese Mission ist unmöglich. Man diskutiert nicht mit einer nicht anerkannten Körperschaft. Deshalb hat der Präsident gezögert, dies zu tun. Aber wenn man es am Ende tut, kann man es genauso gut vorher machen. Das ist für jeden billiger. Macron ist, nachdem er diesen Dialog jetzt angenommen hat, in die Falle geraten - und viel anfälliger als gestern."

"Neue Zürcher Zeitung": "Jenes Frankreich, das (Präsident Emmanuel) Macron als wiederauferstandenen Unternehmensstandort porträtieren will, steht nun als das Land der brennenden Barrikaden da. Die Proteste hinterlassen bereits Spuren in der Wirtschaft. So hat die französische Zentralbank am Montag ihre Prognosen für das Wirtschaftswachstum im vierten Quartal um 0,2 Prozentpunkte auf 0,2% reduziert. (...) Um die in Jahrzehnten aufgestauten Probleme in Frankreich zu lösen, braucht es marktwirtschaftliche Reformen und einen langen Atem. Dass Macron mit seinem Kurs scheitert, ist weder im Interesse Frankreichs noch Europas. Man sollte nicht vergessen, dass die Rechtspopulistin Marine Le Pen 2017 seine größte Kontrahentin war. Italien sollte den Franzosen als abschreckendes Beispiel dienen – dort zeigt sich, dass Populisten auch keine Wundermittel haben."

"Sega" (Sofia): "Panzerwagen auf den Straßen einer Hauptstadt sind immer ein Zeichen für ein gesellschaftliches Erdbeben. Bei den aktuellen Pariser 'Gelbwesten'-Protesten sind eigentlich nur die gelben Westen neu: Die Straßenrevolten dort sind eine historische und fast eine touristische Tradition. Frankreich und Paris sind seit langem ein Merkmal für Aufständigkeit. Dort geschieht in der Regel am frühesten das, was später Gesellschaften, Landkarten, Philosophien und Ideologien in der ganzen Welt verändert."

"Hospodarske noviny" (Prag): "Der französische Präsident Emmanuel Macron revidiert nach den Gelbwesten-Protesten seine mutigen Pläne. Und die neue deutsche CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer will vor den Europawahlen im nächsten Jahr die umstrittenste politische Linie ihrer Vorgängerin verändern - die offene Immigrationspolitik. Aus Mitteleuropa tönt es schadenfroh: Das haben wir doch von Anfang an gesagt. Doch gerade darin liegt der Geist der Demokratie. Auch über umstrittene Vorhaben muss man zunächst eine Diskussion führen und sie gegebenenfalls in der Praxis ausprobieren, statt sie gleich zu verurteilen und in den Papierkorb zu werfen. (...) Europas Spitzenpolitiker sollten die Situation nicht aus dem Ruder laufen lassen. Eine Lösung wäre es, weniger Ambitionen an den Tag zu legen, sondern sich mehr den praktischen Alltagsproblemen der Wähler zu widmen und die Demokratie von unten zu fördern. Sonst setzt Europa die liberale Demokratie und das, was es bisher bei der Integration erreicht hat, aufs Spiel. Statt starker Anführer braucht Europa fähige Demokraten."

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