London: Umsturz, Absturz oder Business as usual
Der nächste Minister, der ging glücklicherweise nur für ein paar Stunden verloren. Umweltminister Michael Gove tauchte am Dienstag deutlich verspätet, aber doch bei der Regierungsklausur in der Londoner Downing Street 10 auf. Zeit genug für die britischen Medien, um gleich über einen weiteren Abgang eines Ministers aus Theresa Mays Kabinett zu spekulieren. Immerhin ist Gove ebenfalls überzeugter EU-Gegner und damit Verbündeter von Ex-Außenminister Boris Johnson und Brexit-Minister David Davies: Jene zwei Herrschaften also, die mit ihren spektakulären Rücktritten am Montag die britische Politik erneut ins Brexit-Chaos schlittern ließen.
Umso mehr war die Premierministerin am Tag danach bemüht, business as usual zu demonstrieren. Die beiden Rebellen wurden nachbesetzt: Gesundheitsminister Jeremy Hunt wird Außenminister, Staatssekretär Dominic Reece übernimmt die Brexit-Agenda von Davies. Das „Weißbuch“, also der britische Brexit-Kompromissvorschlag für den Brexit, geht am Donnerstag plangemäß nach Brüssel. May bleibt also auf ihrem Brexit-Kurs, auch wenn der Johnson und Davies aus dem Kabinett befördert hat und damit eine Revolte der Anhänger eines harten Brexit provozieren könnte. Im politischen Spiel in London scheint zur Zeit alles möglich. Ein KURIER-Überblick über die wichtigsten Szenarien.
Sturz und Neuwahlen:
Noch traut sich mit wenigen Ausnahmen keiner der EU-Gegner aus der Deckung, doch im Hintergrund werden in den konservativen Gruppierungen im Londoner Unterhaus bereits Stimmen für einen Misstrauensantrag gesammelt. Die Frage ist, ob man es mit den Stimmen der Opposition auf eine Mehrheit bringt, um die Premierministerin zu stürzen. Die ist zwar schon seit den Wahlen im Vorjahr politisch geschwächt, hat aber einen Trumpf, den sie auch gerne öffentlich ausspielt. Neuwahlen würden nach heutigen Umfragen eine Mehrheit für die Labour-Partei und damit den deklarierten Linken Jeremy Corbyn in die Downing Street bringen. Ein Albtraumszenario für die Konservativen. Corbyn ist zwar auch EU-Skeptiker dürfte aber einen kontrollierten Brexit, also einen EU-Ausstieg mit auch weiterhin engen Beziehungen zur Union ansteuern.
May schafft ihren Brexit:
Der Ball liegt ab Donnerstag bei der EU. Die wird das britische Angebot kritisieren und umfassende Änderungen einfordern. Doch viele Experten halten Mays Weißbuch für eine vernünftige Verhandlungsgrundlage. Am Ende könnte die Premierministerin ihr Ziel erreichen, eine für Großbritannien maßgeschneiderte Lösung für dessen wirtschaftliche Beziehungen mit der EU. Schließlich will auch die EU einen harten Brexit, also den Abbruch aller Brücken zwischen Großbritannien und Europa, vermeiden.
EU-Totalausstieg:
Auch wenn ihn sowohl Brüssel als auch die derzeit politisch verantwortlichen in London unbedingt vermeiden wollen. Der harte Brexit, der Großbritanniens Beziehungen zur EU auf das eines beliebigen außereuropäischen Staates reduzieren würde, ist – zumindest vorübergehend – durchaus realistisch. Denn die Zeit drängt: Im März 2019 verlässt Großbritannien die EU, Ende 2020 endet die Übergangsfrist. Bis dahin muss ein Vertrag über die zukünftigen Beziehungen unterschrieben und ratifiziert sein. Das gilt sowohl für die EU-Mitglieder als auch für das Parlament in London, wo bis dahin auch die EU-Gegner das Sagen haben könnten. Die könnten auch den Totalausstieg durchsetzen, um danach mit der EU unter neuen Vorzeichen ein Handelsabkommen zu verhandeln. Das allerdings wäre eine riskante Strategie.
Sanfter Brexit oder kein Ausstieg:
Ein unwahrscheinliches Szenario, da in Großbritannien auch heute eine klare Mehrheit hinter dem EU-Ausstieg steht. Notwendig wäre ein zweites Referendum, das die Entscheidung für den Brexit aus 2016 rückgängig machen könnte. Dieses müsste vom Parlament beschlossen werden, dort aber ist eine Mehrheit dafür derzeit nicht in Sicht. Die Liberaldemokraten, die einzige Partei, die klar für einen Verbleib in der EU eintritt, liegen in Umfragen bei zehn Prozent der Stimmen. Die britische Wirtschaft wiederum fordert einen sanften Brexit, der Großbritannien im gemeinsamen Markt mit der EU belassen würde. Das hieße weiterhin freier Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen. Diese quasi-Teilmitgliedschaft in der EU würde einen Aufstand der EU-Gegner in London auslösen, da man damit weiterhin EU-Regelungen akzeptieren müsste. Auch Brüssel könnte das nicht akzeptieren, weil es zum Model für andere EU-skeptische Regierungen werden könnte.
Von Konrad Kramar und Robert Rotifer (aus London)
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