Lokalaugenschein in Syrien: Teile und herrsche

Lokalaugenschein in Syrien: Teile und herrsche
Ein KURIER-Lokalaugenschein in der umfehdeten Stadt Manbidsch zeigt Konturen der Nachkriegsordnung

Sie würden eher im Kampf sterben als ihre Heimat im Stich zu lassen. „Wir gehen hier nicht lebendig weg“, betonen der 26-jährige Sajor Berjis und der 20-jährige Ibrahim Samar stur. Unsicher werden die beiden Syrer aber, als die Frage folgt, für welche Heimat sie genau sterben würden. Für Syrien? Das Land von Präsident Bashar al-Assad? – „Niemals.“ Dann stille Blicke auf die hüfthohen Sandsäcke, die ihre Stellung schützen, dann die Bitte, etwas anderes zu fragen. Schlussendlich fällt es ihnen doch ein: „Für unsere Stadt Manbidsch.“

Ihre professionelle Camouflage ziert echte Soldaten einer echten Armee. Ein gelbes Emblem weist sie als Soldaten der „SDF“ aus: Syrian Defense Forces, sprich syrische Verteidigungseinheiten. Diese von den USA und ihren Verbündeten im Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ aufgebaute und ausgerüstete Truppe von zirka 60.000 Kämpfern kontrolliert derzeit ein Drittel Syriens: das Gebiet nordöstlich des Euphrats, Manbidsch, das nur 60 Kilometer östlich von Aleppo liegt, über die Stadt Rakka bis zur Grenze zum Irak. Tatsächlich ist es eine Miliz, die mehrheitlich aus den kurdischen Volksverteidigungseinheiten, dazu aus arabischen Oppositions-Milizen und der Einheit besteht, zu denen Sajor Berjis und Ibrahim Samar gehören, dem „Militärrat von Manbidsch“.

Von dieser Anhöhe ihres Stützpunktes tut sich ein weiter Blick auf den Euphrat und sein weites sumpfiges Ufer auf. Eine Talsohle trennt sie vom nächsten Dorf, ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt. Auf der dortigen Anhöhe sei ein türkischer Militärstützpunkt. Monatelang war es täglich zu Feuergefechten mit der ebenfalls syrischen Oppositions-Miliz gekommen, die diesen Ort mit türkischer Hilfe kontrolliert. „Islamistische Extremisten sind das! Unsere Feinde.“ Ihr Stützpunkt befindet sich dreißig Kilometer vor ihrer „Heimat“, der 100.000- Einwohnerstadt Manbidsch.

Einflusszonen

Zwei der vielen tektonischen Polit-Platten, die sich in Syriens sieben Jahre dauernden Konflikt formierten, prallen an dieser Front zusammen: Die Einflusszone der Türkei, die mittlerweile bis in die Provinz Idlib und das Umland von Aleppo reicht, und jene der USA und ihrer Verbündeten. Im Jänner hatte sich an einem anderen Punkt dieser Konfliktlinien ein Nebenkrieg entzündet: Die SDF wurde in der kurdischen Provinz Afrin von der Türkei und ihren Verbündeten angegriffen und vertrieben.

Lokalaugenschein in Syrien: Teile und herrsche

Eine ähnliche Eskalation war für Manbidsch befürchtet worden. Doch ein Treffen der Außenminister der USA, Mike Pompeo, und der Türkei, Mevlüt Çavusoglu, am Mittwoch scheint dies zu verhindern. Ein „Fahrplan“ für Manbidsch wurde vereinbart. Demnach müssen die kurdischen Volksbefreiungsmilizen abziehen, die aus Sicht der Türkei Teil der kurdischen Arbeiterpartei PKK seien und als „Terroristen“ gelten. Ein Dutzend Kontrollposten, die zur Hälfte von der Türkei besetzt werden, und gemeinsame türkisch-amerikanische Kontrolle an den Pufferzonen wurden vereinbart. Doch die SDF und der „Militärrat von Manbidsch“ bleiben. Wenigstens noch ein halbes Jahr.

Zuletzt kündigte Syriens Präsident Bashar al-Assad an, keine „ausländischen Kräfte“ mehr zu dulden, und drohte der SDF, mit Gewalt das von ihr eroberte Gebiet einzunehmen. Doch auch er ist auf ausländische Hilfe angewiesen: In den eben eroberten Vorstädten der Hauptstadt Damaskus sorgt die russische Militärpolizei für Recht und Ordnung. Ohne die massive Unterstützung der Armee Russlands wäre nicht nur der jüngste Siegeszug Assads nicht möglich gewesen.

Faktische Besatzung

Nicht minder entscheidend ist für ihn die Unterstützung durch Milizen, die von Irans „Revolutionsgarden“ sowie der libanesischen Hisbollah trainiert und kommandiert wurden. Die mittlerweile neun Syrien-Verhandlungsrunden in Astana stellten die Weichen hin zum faktischen Besatzungszustand Syriens durch die zentralen Akteure dieser Gespräche: Schon im Oktober hat die Türkei zwölf Beobachtungsposten in der Provinz Idlib besetzt, Ende Mai gab das russische Verteidigungsministerium bekannt, dass man zehn solcher Posten künftig halten werde und der Iran sieben.

Für die USA ist die Vereinbarung für Manbidsch richtungsweisend: Mit Manbidsch haben auch sie jetzt Kontrollposten faktisch unter ihrer Kontrolle. 2000 US-Soldaten sind in Syrien stationiert, unterstützen die SDF. Längst geht es dabei nicht mehr um die letzte Etappe im Kampf gegen die Terrormiliz „IS“, der an der Grenze zum Irak noch tobt.

„Für die USA und ihre Verbündeten sind wir, vor allem die SDF, ein Bollwerk gegen den iranischen Einfluss“, sagt Fahad Dash. Er ist der Führer eines der zentralen arabischen Klans aus der Region. Viele Mitglieder seines Clans sind Teil der SDF und unterstützen den „ Militärrat Manbidsch.“ Die Stadt ist somit ein Mikrokosmos, der Syrien und seinen Konflikt idealtypisch spiegelt: Hier leben mehrheitlich Araber, gemeinsam mit Kurden und Turkmenen. Es war die erste Stadt, die 2012 von der oppositionellen „Freien Syrischen Armee“ eingenommen und durch einen Lokalrat verwaltet wurde. Ab 2014 war sie unter Kontrolle der Terrormiliz „IS“, 2016 wurde sie als eine der ersten befreit. Und nun wird es eine der ersten Städte sein, in der ein lokaler „Militärrat“ unter der Patronanz zweier Nato-Staaten die Macht übernimmt.

Leben nach dem Krieg

„Die USA haben uns versprochen, dass wir bleiben und die Türkei uns nicht besetzt“, sagt der Chef des Militärrats, Abu Adel. „Es ist Zeit, dass wir ein Leben nach dem Krieg aufbauen, das ist unser eigentliches Ziel, unser Traum“.

Wovon die Menschen hier heimlich träumen, weiß Jahir Ahmad: „Hawaii“, sagt der Parfum-Händler im Zentrum der Stadt, sei sein Bestseller. „Würden Sie sich nach all dem Wahnsinn nicht auch nach einer Insel mit Palmen sehnen?“ Noch vor zwei Jahren war es die Note „großer Sultan“. „Ich habe Tausende Dollar nur mit dieser Sorte verdient“, erzählt er. Die Kundschaft bestand damals fast ausschließlich aus IS-Terroristen. Das Geld von damals könnte er gut gebrauchen: „Die Kurden, die uns derzeit kontrollieren sind nicht so schlimm wie die Assad-Diktatur oder die Räuber der Freien Syrischen Armee oder die IS-Terroristen, aber bringen gar nichts zusammen. Die Preise schnellen derzeit in einem atemberaubenden Tempo hoch.“

Es riecht streng nach Fleisch, das schon seit Stunden bei fast vierzig Grad Celsius in den ungekühlten Verkaufsständen des Marktes hängt. Strom gibt es nur für ein paar Stunden am Tag. „Es ist Zeit, dass wir uns selbst um unsere Stadt, unser Land kümmern. Um Manbidsch und um Syrien.“

Petra Ramsauer

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