Libyen: Scud-Raketen als Verzweiflungstat

Die Rebellen schließen den Belagerungsring um Tripolis. Nach sechs Monaten Bürgerkrieg ist das Regime schwer angeschlagen.

Am 1. September will Muammar al-Gaddafi den Jahrestag der Revolution von 1969 begehen. Damals hatte der junge Oberst König Idris I. vom Thron gestürzt und sein sozialistisch-nationales Experiment gestartet, das rasch in Diktatur und Personenkult umschlug.
Üblicherweise wird Libyens Nationalfeiertag mit großem Pomp begangen, mit Straßenfesten, Paraden, Pferderennen. Doch heuer ist alles anders: Gaddafi steht mit dem Rücken zur Wand. Nach sechs Monaten Bürgerkrieg voller Rückschläge ist es den Rebellen jetzt offenbar gelungen, Tripolis zu umzingeln und die Versorgung der Hauptstadt über den Landweg aus Tunesien zu unterbrechen.

Im Westen eroberten sie nach eigenen Angaben die Städte Zawaiyah und Surman, im Süden Al-Ghariyan. Da der Osten fest in der Hand der Rebellen ist, kommt aus Ägypten schon lange kein Nachschub mehr durch. Und der Norden ist durch NATO-Schiffe abgeriegelt.

Durchhalte-Parolen

Auch wenn Gaddafi im Fernsehen martialische Durchhalteparolen ausgibt, die Angst des Regimes vor einem Sturm auf Tripolis steigt spürbar an: So feuerten die durch die ständigen NATO-Luftangriffe geschwächten Regierungstruppen erstmals eine der völlig veralteten Scud-Kurzstreckenraketen auf die heftig umkämpfte Stadt Brega ab. Sie verfehlte zwar ihr Ziel, die NATO bewertet den Angriff aber als Verzweiflungstat. In Brega sollen allein am Montag 26 Rebellen von Scharfschützen getötet worden sein.

In seiner Heimatstadt und bisherigen Hochburg Sirte lässt Gaddafi Waffen und Munition von den Bürgern einsammeln, angeblich "damit nicht sinnlos herumgeschossen wird". Oder fürchtet er einen Aufstand?

Bezeichnend sind auch Berichte, wonach sich drei Minister Gaddafis unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in einem Hotel auf der tunesischen Insel Djerba mit Unterhändlern der Rebellen getroffen haben sollen. Beide Seiten dementieren die Verhandlungen und sprechen von Propaganda. Das Geheimtreffen wird aber von tunesischen Sicherheitskreisen bestätigt.

Auch ein Gesandter von Venezuelas Staatschef Hugo Chavez soll daran teilgenommen haben. Bereits vor Monaten war Venezuela als möglicher Zufluchtsort für Gaddafi ins Gespräch gebracht worden. Noch aber lässt der Revolutionsführer ausrichten, er denke gar nicht daran, sein Land zu verlassen. Auf Bitten der Weltgesundheitsorganisation WHO haben die Niederlande 100 Millionen Euro aus eingefrorenen Gaddafi-Geldern freigegeben. Es sollen damit Medikamente für die leidende Bevölkerung gekauft werden.

Scud-Raketen: 300 Kilometer Reichweite, aber ungenau

Dass er Scud-Raketen besitzt, hat Muammar al-Gaddafi nun klargestellt. Wie viele es sind, ist jedoch unbekannt. 2003 hatte sich Libyen in einem Vertrag mit den USA und Großbritannien verpflichtet, seine in den 1980er-Jahren aus der Sowjetunion importierten Scuds mit 300 Kilometern Reichweite zu verschrotten. Offenbar hat es aber einige Geschoße behalten oder sich, wie manche Experten befürchten, nach 2003 neue beschafft - etwa aus Nordkorea.

Zudem besitzt das Land laut dem deutschen Waffenexperten Götz Neuneck vermutlich einige Al-Fatah-Raketen (200 km Reichweite). Eine Bedrohung für europäische Großstädte sehen Fachleute aber nicht. Die als äußerst ungenau geltenden, Ende der 50er-Jahre in der UdSSR entwickelten Scuds können Reichweiten bis zu 550 km erzielen. Sie wurden nicht nur nach Libyen, sondern auch in andere UdSSR-Partnerländer exportiert. Während des Zweiten Golfkriegs feuerten die Truppen des damaligen irakischen Diktators Saddam Hussein Scuds auf Saudi-Arabien und Israel ab. Die meisten verfehlten jedoch ihre Ziele.

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