„Wir sind so stolz, wie die Dinge vorangehen“, sagt die junge Libanesin Haya zum KURIER. Ein wenig Angst habe sie vor dem, was in der nahen Zukunft passieren werde, „aber alles in allem habe ich dieses abgefuckte System satt“. Über alle Klassen und Religionen hinweg sind mehr als eine Million Libanesen in den letzten Tagen auf die Straße gegangen.
Am Montag präsentierte Ministerpräsident Saad Hariri einen 17-Punkte-Reformplan, sein selbst auferlegtes Ultimatum von 72 Stunden war abgelaufen. Doch das habe nur noch mehr Libanesen auf die Straße gebracht, sagt der Demonstrant Saadeh, denn „die Leute haben kein Vertrauen mehr in sie“.
Er spricht von der korrupten politischen Führung. Sie habe versagt. Doch wie es weiter gehen soll, bereitet auch Saadeh Sorgen. Vom sunnitischen Norden bis in den schiitischen Süden, von der Bekaa-Ebene im Osten bis an die Küsten im Westen: Gemeinsam kämpfen sie gegen die politische Elite und für den Libanon. Die Proteste kommen in Folge einer lang anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise. Tief sitzt die Frustration der Bevölkerung über die steigende Armut, hohe Arbeitslosigkeit, die regelmäßigen Ausfälle in der Strom- und Wasserversorgung sowie bei der Müllentsorgung.
Im vorigen Monat kamen Versorgungsmängel bei Treibstoff und Weizen aufgrund eines Dollar-Mangels im Land hinzu. Dass die Politik unfähig war, auf massive Waldbrände zu reagieren, sorgte für zusätzlichen Unmut. Inmitten der Empörung wurde vergangenen Donnerstag eine Steuererhöhung bekannt, auch auf Internettelefonie via WhatsApp. Das war der letzte Tropfen im randvollen Fass: „Wir gehen auf die Straße!“
Die Demonstranten errichteten Straßenblockaden, zündeten Reifen an, legten das Land lahm. Premier Hariri trat am Freitag, 24 Stunden nach Beginn der Proteste, vor die Bevölkerung und erteilte der Einheitsregierung ein dreitägiges Ultimatum, um eine Lösung zu finden.
Die demonstrierenden Libanesen haben jedoch andere Forderungen: „Wir sind gegen alle Politiker, alle Minister, alle Abgeordneten“, sagt Saadeh. Es sei die echte Revolution, auf die er schon sehr lange gewartet habe. Der junge Mann lebt in Beirut. Er arbeitet freiberuflich als Fotograf, ist oft arbeitslos. Wie ein Viertel seiner Landsleute: Bei den unter 25-Jährigen sind 37 Prozent ohne Arbeit.
Im Norden und Süden schossen Parteiangehörige auf Demonstranten, es gab Tote und Hunderte Verletzte. Auffallend ist, dass die Libanesen nicht mit einzelnen Parteiflaggen, sondern unter der libanesischen Nationalfahne den Rücktritt der gesamten politischen Führung fordern. Eine solche Bewegung ist im religiös sehr diversen Libanon bisher noch nie da gewesen: 18 Religionen sind anerkannt, das politische System ist konfessionell geregelt und die Parteien religiös ausgerichtet.
Erstmals kritisieren Bürger ihre eigenen Parteien. Besonders Schiiten zeigen damit ihr Engagement für diesen Protest, denn die öffentliche Kritik an ihrer Partei war bisher tabu. Nabatieh, Saida und Sur – für die schiitischen Städte des Südens solidarisiert sich das ganze Land. So rief man im sunnitischen Tripoli im Norden: „Sur, Sur, Sur, wir rebellieren für dich“.
Die gewaltsamen Ausschreitungen schockierten die Libanesen jedoch, die Stimmung wurde am Samstag anders: Frauen standen in den ersten Reihen des Protests und wirkten deeskalierend, in der Innenstadt herrschte Volksfeststimmung, die Libanesen feierten - und das können sie. Als abends vier Minister der christlichen Partei zurücktraten, stand Saadeh inmitten eines Meeres von Handylichtern und rot-weiß-roten Nationalflaggen mit Zedernbaum, die Meute am Märtyrerplatz sang, tanzet und er sagte „wir regieren jetzt“.
Der Protest ist farbenfroh und ausgelassen. Als Hassan Nasrallah, der Chef der schiitischen Partei „Hisbollah“, sich bei einer offiziellen Ansprache gegen den Rücktritt der Regierung ausspricht, rufen die Demonstranten: „All of them, all of them, and Nasrallah is one of them”. Derartige Sprechchöre sind beispielslos in der libanesischen Geschichte.
Nicht nur, dass die Demonstranten jegliche Politiker über alle Parteien hinweg ankreiden, sie tun es auch mit einer obszönen Schamlosigkeit und heben die Elite somit von ihrem Podest. „Dieb, Dieb Michel Aoun ist ein Dieb“, der gängige Spruch an diesem Wochenende, den Präsidenten des Landes betreffend, war zuvor undenkbar und als Beschimpfung ein Gesetzesverstoß. Für seinen Schwiegersohn, Außenminister Gebran Bassil hab die Demonstranten noch weniger übrig.
Saadeh fuhr am Dienstag in seine Heimatstadt Tripoli, der Protest dort sei der gleiche. Wie Haya sei auch er glücklich und ängstlich zugleich: „Ich weiß nicht, was als Nächstes passiert, ich mach mir Sorgen, dass es einen Bürgerkrieg geben wird, wenn die Leute auf der Straße bleiben.“
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