Laute Rufe nach Türkei-Sanktionen

Die Istanbuler Polizei geht gegen Demonstranten vor
Das Türkei-Urteil der EU-Kommission ist vernichtend, Ausmaß und Art der Strafe ist noch offen.

Nach langem Zögern mehren sich in den bisher Erdoğan-freundlichen EU-Institutionen und manchen Regierungen die Stimmen, härter gegen das autoritäre Regime in Ankara aufzutreten: "Wir lassen uns nicht weiter von der türkische Staatsspitze vorführen. Jetzt muss es ein deutliches Signal geben, sonst sind wir völlig unglaubwürdig", sagt ein hochrangiger Kommissionsbeamter. Den Massenverhaftungen von Oppositionspolitikern und Journalisten, die Missachtung sämtlicher rechtsstaatlicher Prinzipien und dem Plan, die Todesstrafe einzuführen, könne die EU nicht mehr länger zusehen.

"Verhandlungen einfrieren"

Im Europäischen Parlament werden harte Maßnahmen gefordert. "Sinnvoll wäre es, die Beitrittsverhandlungen einzufrieren. Es braucht auch maßgeschneiderte Sanktionen, die auf Personen abzielen", verlangt im KURIER-Gespräch der Menschenrechtssprecher der Europäischen Sozialdemokraten, Josef Weidenholzer.

Er kritisiert, dass die EU "zu lange Zeit gewartet hat, zu reagieren. Die Spirale der Provokationen von Staatspräsident Erdoğan drehte sich ständig nach oben. Jetzt reicht es".

Ähnlich sieht es auch der Außenpolitiker der Europäischen Volkspartei, Othmar Karas: "Die Türkei beweist derzeit täglich, dass sie sich von der EU wegbewegt. Ich teile die Meinung von Außenminister Sebastian Kurz, dass die Türkei nun die rote Linie überschritten hat."

Kommission wartet ab

Die EU-Kommission hält sich mit Vorschlägen über Strafen zurück. Das sei Sache der EU-Regierungen, heißt es. Und dem Vernehmen nach, will die Kommission in ihrem Türkei-Bericht auch die Beitrittsverhandlungen nicht suspendieren.

Aus den Staatskanzleien kommen hingegen konkrete Vorschläge. Bundeskanzler Christian Kern will die Gelder im Rahmen der Vorbeitrittshilfe einfrieren (von 2014-2020 sind für die Türkei 4,5 Milliarden Euro vorgesehen) und die Beitrittsverhandlungen sofort stoppen. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn fordert EU-Wirtschaftssanktionen. 50 Prozent der türkischen Exporte gehen in die EU, 60 Prozent der Investments in der Türkei kommen von EU-Unternehmen.

Das Umfeld von Kanzlerin Angela Merkel will von Strafen noch nichts wissen. "Die Bundesregierung beteiligt sich jetzt nicht an einer Sanktionsdebatte", verkündete der Regierungssprecher in Berlin. Merkel fürchtet, Erdoğan könnte wahrmachen, womit er ständig droht: die Aufkündigung des Flüchtlingsdeals.

"Nazi-Herrschaft"

Kein Ergebnis brachte gestern das Treffen der in Ankara akkreditierten EU-Botschafter mit Europa-Minister Ömer Çelik. Der Vertraute von Erdoğan wies den Vergleich von Asselborn, das Vorgehen der türkischen Regierung erinnere ihn an "Methoden der Nazi-Herrschaft" , zurück.

Am Mittwoch wird EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn den Türkei-Bericht zuerst im Außenpolitischen Ausschuss des EU-Parlaments vorstellen, dann erst in der Kommission. Was auf 110 Seiten steht , soll ein "verheerendes Bild" über die demokratische und rechtliche Lage in der Türkei skizzieren. Von "schwerwiegenden Rückfällen" ist die Rede.

Am Montag beim Treffen der EU-Außenminister werden Konsequenzen aus dem Bericht gezogen. Die Chef-Diplomaten können Strafmaßnahmen beschließen. Einstimmigkeit ist nicht erforderlich. Laut dem Verhandlungsmandat von 2005 reicht bei "ernsthafter und anhaltender Verletzung von Demokratie und Menschenrechten" die qualifizierte Mehrheit. "Das wird wohl niemand bezweifeln", betont Abgeordneter Weidenholzer.

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