Lage in der Türkei ist "beängstigend"

In Istanbul kam es zu Ausschreitungen zwischen Kurden und Polizei.
Kurden-Konflikt eskaliert: Nach heftigen Kämpfen mit PKK sieht Experte Günay eine "neue Dimension ". Die EU schaut zu.

Helikopter kreisen über Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt der türkischen Kurden; gepanzerte Fahrzeuge sind aufgefahren; ganze Stadtviertel sind von Polizisten und Soldaten abgeriegelt, darunter auch das Altstadtzentrum Sur, das erst im Sommer zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Mit kurzen Unterbrechungen herrscht dort seit dem 2. Dezember eine Ausgangssperre rund um die Uhr. Der Grund: Türkische Sicherheitskräfte gehen gegen Kämpfer der kurdischen Untergrundbewegung PKK vor, die in Sur Gräben ausgehoben und Barrikaden errichtet haben. Augenzeugen berichten von heftigen Gefechten.

Der türkische Premier Ahmet Davutoglu hat angekündigt, die PKK "Viertel um Viertel, Haus um Haus und Straße um Straße" zurückzudrängen. Abdusselam Inceören von der IHD-Menschenrechtsvereinigung in Diyarbakir hingegen meint: "Die Angriffe gelten dem kurdischen Volk."

Im Gespräch mit dem KURIER analysiert Cengiz Günay, Türkei-Experte am Österreichischen Institut für Internationale Politik, die aktuellen Ereignisse.

KURIER: Aus dem Osten der Türkei erreichen uns dramatische Bilder. Droht das Land in einen Bürgerkrieg zu rutschen?

Cengiz Günay: Es ist tatsächlich beängstigend, was dort gerade stattfindet. Von Bürgerkrieg würde ich nicht sprechen, aber es sind sicher bürgerkriegsähnliche Zustände. Fest steht, dass der Konflikt zwischen der Türkei und der PKK eine neue Dimension erhalten hat.

Inwiefern?

Weil sich die Auseinandersetzung bisher auf die türkischen Sicherheitskräfte und die PKK beschränkt haben, jetzt ist auch die Zivilbevölkerung betroffen. Und daran sind beide Seiten schuld: Die Regierung geht mit äußerster Härte auch in den Wohngebieten vor, das ist brandgefährlich, weil Kurden so noch stärker mit der PKK sympathisieren oder sogar für sie aktiv werden könnten. Und die PKK hat ihren Kampf von den Bergen in die Städte getragen. Dort sind jetzt alte Rebellen und junge Unzufriedene gleichermaßen in Stellung gegangen. Die PKK will mit dieser neuen Taktik einen flächendeckenden Aufstand provozieren.

Könnte das auch die Städte Istanbul oder Ankara betreffen?

Das wäre ein Katastrophenszenario.

Wie kam es zu diesem Strategiewechsel der Kurden-Guerilla?

Die PKK, oder zumindest Teile der nicht homogenen Gruppierung, sehen jetzt offenbar eine historische Chance, Linien für einen etwaigen künftigen Kurdenstaat zu ziehen.

Aber die Eigenstaatlichkeit wurde zuletzt nicht mehr propagiert, stets war von Föderalismus die Rede.

Das ist richtig, aber durch die Vorgänge in Syrien sieht sich die PKK in ihrer Position gestärkt. Dort hat ihre Schwesterorganisation PYD in weiten Teilen eine autonome Verwaltung aufgebaut. Deren bewaffnete Truppen bieten den Extremisten des "Islamischen Staates" an vorderster Front die Stirn. So wurde die PYD sogar Ansprechpartner der Amerikaner.

Und das wurmt Ankara, oder?

Genau. (Der türkische Präsident) Erdogan sieht die territoriale Einheit bedroht. Wobei er schon nach den Parlamentswahlen vom 7. Juni dieses Jahres (als seine AK-Partei die absolute Mehrheit verloren hat) auf eine Remilitarisierung des Konflikts gesetzt hat. Er hat gleichsam allen kurdischen Aktivitäten den Krieg erklärt. Das hat zu einer massiven Polarisierung im Land geführt – und war wohl Kalkül: Mit einer Blut- und Bodenpolitik zielte er bei der (neuerlichen) Wahl vom 1. November auf Stimmen aus dem nationalen Lager.

Das Kalkül ging auf, Erdogans Partei erhielt die "Absolute".

Ja, aber um welchen Preis. Es gab beängstigende Übergriffe auf Geschäfte von Kurden. Es herrschten pogromartige Zustände.

Besteht die Gefahr, dass sich der Konflikt zu einem ethnischen zwischen Türken und Kurden auswächst?

Zumindest kann man das derzeit nicht ausschließen. Grund zur Sorge besteht.

Aus der EU hört man zu den aktuellen Vorgängen im Osten der Türkei gar nichts. Ist das nicht beschämend?

Die Union braucht Ankara in der Flüchtlingsfrage. Sie hat ihren idealistischen Ansatz aufgegeben, mehr Demokratie in der Türkei durchzusetzen. Jetzt steht die Sicherheits- und Realpolitik im Vordergrund. Doch damit setzt die EU ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Denn im Land herrscht ein Autoritarismus wie schon lange nicht mehr. Jetzt die Beitrittsgespräche wieder zu intensivieren, ist scheinheilig, weil man weiß, dass die Türkei mittel- und auch langfristig nicht der EU beitreten wird. Aber in Brüssel will man Erdogan gerade jetzt nicht herausfordern.

Ist der Konflikt überhaupt militärisch zu lösen?

Nein, das haben die vergangenen 30 Jahre bereits gezeigt. Es kann nur eine Verhandlungslösung geben. Dass beide Seiten auf Härte setzen, kann man auch so interpretieren, dass sie ihre Position für etwaige spätere Gespräche stärken wollen. Selbst Tayyip Erdogan hat sich in der Vergangenheit immer wieder pragmatisch gezeigt.

Welche Rolle spielt der inhaftierte Ex-PKK-Führer Abdullah Öcalan noch?

Er sitzt bald seit 17 Jahren in Einzelhaft. Als Symbolfigur des kurdischen Widerstandes ist er weiterhin sehr wichtig. Inwiefern er noch realpolitische Macht über die von ihm gegründete PKK hat, kann man seriöserweise nicht sagen.

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