"Kultureller Genozid": Experte über Chinas Internierungslager
Die kulturelle Auslöschung der uigurischen Minderheit in China ist auf Punkt und Beistrich durchdacht – und reicht über den Tod hinaus. So sucht man in der nordwestlichen Provinz Xinjiang mittlerweile zahlreiche Moscheen und Friedhöfe vergebens.
In der Zwei-Millionen-Stadt Aksu etwa findet sich auf dem Areal des einst riesigen muslimischen Friedhofs ein „Happiness Park“: eine Grünfläche samt Teich und grinsender Pandabär-Statue. Gräber von Generationen uigurischer Familien – einfach ausradiert. Satellitenbilder belegen die Zerstörung.
Doch Peking geht noch viel weiter, um die Provinz, in der es seit Protesten der Uiguren 2009 mit offiziell 197 Toten immer wieder zu blutigen Zwischenfällen mit Han-Chinesen gekommen ist, in den Griff zu bekommen.
Das Friedhofsareal in Aksu ist mittlerweile zu einem Park umgewandelt worden
Ins Ausland gespielte und jetzt vom Internationalen Konsortium Investigativer Journalisten veröffentlichte geheime Dokumente der Kommunistischen Partei (KP) aus den Jahren 2017 und 2018 belegen die systematische Verfolgung – auch wenn Peking von „Fake News“ spricht.
Zwischen 900.000 und 1,8 Millionen der elf Millionen Uiguren sind oder waren in bewachten und abgeschotteten Umerziehungslagern eingesperrt. Keine Rede von „Weiterbildungseinrichtungen“, in denen jeder freiwillig sei, wie von Peking behauptet. Dort wird ihnen Glaube und Kultur ausgetrieben. Wer dagegen verstößt, muss mit „Züchtigung“ rechnen.
1200 Umerziehungslager: Gehirnwäsche im großen Stil
Kameras und Spitzel gibt es überall in Xinjiang – selbst Uiguren im Exil werden überwacht; alles läuft in einer Überwachungsdatenbank zusammen, um „Terroristen“ auszuforschen und zu fassen.
In den Dörfern ziehen gar Aufpasser direkt zu den Familien, um in ihren Häusern zu kontrollieren, wie sie zur KP stehen, wer betet oder das von Han-Chinesen geliebte Schweinefleisch verweigert. Die Kinder werden in Internaten „gleichgeschaltet“.
Xinjiang-Experte Adrian Zenz spricht von einem „kulturellen Genozid“. Der Deutsche, den der KURIER in den USA erreichte, beobachtet die Lage seit Jahren. Aus ihm zugespielten, vertraulichen Regierungsdokumenten, Satellitenaufnahmen und öffentlichen Projektausschreibungen schließt er, dass es in der Region bis zu 1200 Umerziehungslager gibt, die in erster Linie intensiver Gehirnwäsche dienen. Dazu kämen 100 bis 200 Haftanstalten.
Moschee in Urumqi: 10.3.2018/29.8.2019
„Die Einrichtung des digitalen Polizeistaates in Xinjiang begann 2014 nach dem Besuch von Präsident Xi Jinping“, sagt Zenz. Ende 2016 wurde massiv Polizei rekrutiert, „alle paar hundert Meter“ wurden Checkpoints errichtet. Im Frühjahr 2017 begann die Internierungswelle.
Zenz sieht einen Zusammenhang mit dem gewaltigen Infrastrukturprojekt der „Neuen Seidenstraße“, das die geostrategische Bedeutung der Region massiv gesteigert habe.
Xinjiang ist mit 1,6 Millionen Quadratkilometern die sechstgrößte chinesische Provinz. Im 18. Jahrhundert teilten Russland und China die zentralasiatische Region Turkestan unter sich auf. 1884 verleibte sich das chinesische Kaiserreich die östlichen Gebiete der trockenen Gebirgslandschaft auch offiziell ein und benannte sie um in "Xinjiang", was "Neue Grenze" bedeutet.
Nach kurzer Unabhängigkeit als Republik Ostturkestan (ab 1930) gehört das Gebiet seit 1949 zur Volksrepublik China. Auch wenn ein Großteil der Bevölkerung in Xinjiang in Armut lebt, ist die Provinz an der historischen Seidenstraße eigentlich reich an Bodenschätzen wie Erdöl und Erdgas.
Die chinesische Regierung lehnt Autonomiebestrebungen der Uiguren ab. Seit den 1990er Jahren siedelt Peking außerdem in Xinjiang Han-Chinesen an - ähnlich wie in Tibet. Das beförderte erhebliche Spannungen zwischen den mehr als zehn Millionen Uiguren und den zugewanderten Han-Chinesen.
Das harte Vorgehen gegen die Bevölkerung, das Peking als "interne Angelegenheit" bezeichnet, liege aber auch daran, dass die KP in China ideologisch in die Defensive geraten sei und den Wettbewerb mit organisierten Religionen, allen voran Islam und Christentum, verloren habe.
Entgegen der Grundmaxime, dass Religion nur „Opium“ sei, das nicht mehr nötig sei, wenn ausreichender Wohlstand erreicht sei, hätten sich immer mehr Menschen dem Glauben zugewandt – Minderheiten wie die Uiguren, aber auch Parteikader.
Die zögerliche Verurteilung des „Genozids“ in Xinjiang durch die internationale Gemeinschaft, auch wenn es Kritik u. a. aus Österreich und einigen anderen EU-Staaten gab, nennt Zenz ein „Armutszeugnis unseres real gelebten Wertesystems“.
Wenn sich Bananenrepubliken Menschenrechtsverletzungen leisteten, würde das kritisiert, sagt der Wissenschaftler, bei China nicht. „Bei China wird deutlich, ob wir bereit sind, den Preis zu zahlen. Wenn wir Menschenrechtsverletzungen anprangern, kostet das was.“
Moschee in Kargilik: 16.3.2010/16.5.2019
„Gesicht wahren“
Zenz spricht sich für Sanktionen gegen China aus. „Einerseits ist die chinesische Regierung stolz, sie muss andererseits aber auch ihr Gesicht wahren, gerade wegen Projekten wie der Seidenstraße.“ Sanktionen würden womöglich sogar Veränderungen bewirken. Doch auch wenn dem nicht so sein sollte, müsse man diesen Schritt setzten. „Es ist ein moralischer Imperativ.“
Nadine Godehardt von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP, Berlin) bemerkt: „Ob man mit dem Vorwurf des kulturellen Genozids Peking noch erreicht oder das genaue Gegenteil, ist fraglich.“ Sie wünscht sich sehr wohl ein kritisches und vor allem geschlossenes Vorgehen der EU.
Sorgen bereitet der eben aus China zurückgekehrten Expertin die zunehmende Frontstellung zwischen China und den westlichen Demokratien, wie sie sich auch in Hongkong zeige. „Peking ist nicht mehr bereit, sich in das internationale System zu integrieren, sondern im Gegenteil die Welt – ihre Normen und Werte – an China anzupassen.“
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