Küsse und der Ritterschlag in Brüssel
Den berühmten Begrüßungsküsschen von Jean-Claude Juncker entkam auch Sebastian Kurz nicht. Die Lippen geschürzt, den jungen Gast einmal kräftig geherzt, hieß der Chef der EU-Kommission gestern seinen jungen Besucher überschwänglich willkommen. Diesen könnte Juncker bald sehr viel öfter sehen – sollte der ÖVP-Chef nach seinem Wahlsieg nächster Regierungschef werden – und kraft des Amtes dann zu sämtlichen EU-Gipfeltreffen reisen. Die Küsschen Junckers wären Kurz dann immer sicher. Denn wen der Präsident der Kommission mag, (das sind aber beileibe nicht alle 28 Staats- und Regierungschefs der EU), den küsst er.
Dabei liegen der in Brüssel als politisches Wunderkind geltende Kurz und sein mehr als doppelt so alter konservativer Parteifreund durchaus nicht in allen Fragen auf einer Linie. Vor allem Kurz’ unnachgiebige Haltung in der Migrationsfrage irritierte. Und auch im Gespräch mit EU-Ratspräsident Donald Tusk bekam Kurz zu hören: Eine potenzielle Regierungsbeteiligung der FPÖ wird in der europäischen Hauptstadt durchaus skeptisch gesehen. Doch Fragen, ob die FPÖ an der Seite der ÖVP agieren werde; ob sie dann im EU-Parlament aus der europafeindlichen Fraktion der ENF (in der auch der französische Front National vertreten ist) austreten müsse, all das wehrt ein selbstsicherer Sebastian Kurz freundlich, aber bestimmt ab.
"Europa-Partei"
Mahnende Worte, so sagte Kurz nach seinem Gespräch mit Juncker, haben es nicht gegeben. "Wir, die ÖVP, wir waren, wir sind und wir werden immer die Europa-Partei sein", betonte der seit seinem Wahlsieg stets Krawatte tragende Parteichef. Bei seiner Brüssel-Besuchtsour wollte Kurz klarstellen: Er steht für eine europafreundliche Politik. Was aber auch bedeute: Die EU müsse sich positiv ändern, reformieren. Eine kleinere EU-Kommission könne er sich vorstellen, sagte Kurz, eine viel fokussierter, effizientere.
Beste Stimmung schlug Kurz auch beim Gipfel der Europäischen Volkspartei (EVP)in Brüssel entgegen. Ein konservativer Politiker, der seine Partei aus dem Tief katapultiert und binnen weniger Monate zum Sieg führt – für dieses Erfolgsrezept erntete er von den EVP-Spitzen Gratulationen in Serie. Vergessen war die einstige Verstimmung zwischen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem jungen österreichischen Außenminister. Die Wogen sind geglättet. In den Reihen der gestandenen EVP-Granden hat Kurz nun gleichsam den Ritterschlag erhalten. Er gilt als einer der Ihren, als "ein Vertreter der Christdemokraten", wie es Italiens Außenminister Alfano formulierte.
Norwegens Rechte
Wohl nicht ganz zufällig absolvierte Kurz auch ein Treffen mit Norwegens Premierministerin Erna Solberg. Diese regiert seit vier Jahren mit der rechtspopulistischen Fortschrittspartei. Und: Erst im September wurden beide Parteien wieder gewählt.
Große Ankündigungen ließ Kanzler Christian Kern aus, selbst bei den sonst vor EU-Gipfeln üblichen Wortspenden blieb der SPÖ-Chef gestern betont wortkarg. Umso mehr Tatendrang und Redelust legte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei seiner Ankunft an den Tag. Seine zahlreichen Pläne hatte er mit im Gepäck, wie die EU effizienter und integrativer werden und ihre Bürger besser „schützen und umsorgen“ könnte. Allein – solange Deutschlands neue Regierung nicht steht, bewegt sich in Brüssel nicht viel.
Und so standen beim zweitägigen Gipfel der 28 Staats- und Regierungschefs vor allem Diskussionen und Willensbekundungen auf dem Programm – etwa dass die eingeschlagene Migrationspolitik fortgesetzt werden muss.
Ganz oben auf dem Forderungskatalog: Der Strom der illegalen Zuwanderung muss eingedämmt, die EU-Außengrenze besser geschützt und vor allem die Rückführung von Migranten in ihre Heimatländer forciert werden. Ausdrücklich bekannten sich die Staatenlenker zur Zusammenarbeit mit den libyschen Behörden. Langfristig will man die Fluchtursachen in Afrika bekämpfen.
Neben dem noch für heuer geplanten Start der Europäischen Verteidigungsunion stand auch noch eine von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel angestoßene Debatte über ein mögliches Ende der EU-Türkei-Beitrittsverhandlungen auf dem Programm. Nur Österreich zieht bei dieser Forderung mit. Kanzler Kern: „ Wir sind schon die längste Zeit der Auffassung, dass die Beitrittsverhandlungen gestoppt gehören.“ Auch die Vorbeitrittshilfen sollten eingestellt werden. Doch die Entscheidung für ein Aus der Beitrittsgespräche mit der türkischen Führung können die 28 EU-Staaten nur einstimmig treffen. Viele Staaten beharren aber auf dem Standpunkt, die Gespräche stünden derzeit sowieso so gut wie still. IST
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