Ukrainische Armee aus dem Zentrum von Sjewjerodonezk verdrängt
Tag 110 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:
Die ukrainische Armee hat den Verlust des Zentrums der schwer umkämpften Stadt Sjewjerodonezk im Osten des Landes eingeräumt. Russische Truppen hätten die Großstadt im Gebiet Luhansk mit Artillerie beschossen und die ukrainischen Soldaten vertrieben, teilte der ukrainische Generalstab am Montagmorgen mit. Die Kämpfe dauerten aber weiter an, hieß es.
Einige Stunden zuvor hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt, im strategisch wichtigen Sjewjerodonezk werde „buchstäblich um jeden Meter gekämpft“. Am Samstag kontrollierten ukrainische Truppen eigenen Angaben zufolge noch rund ein Drittel der Stadt.
Sjewjerodonezk ist seit Tagen Zentrum der heftigen Kämpfe im Gebiet Luhansk, das russische und prorussische Kämpfer bereits zu mehr als 90 Prozent erobert haben. Beschossen wird in Sjewjerodonezk auch die Chemiefabrik Azot, in der ukrainischen Angaben zufolge weiter Zivilisten ausharren, die das Werksgelände als Luftschutzbunker nutzten.
Die Lage in der Stadt sei die Schlimmste im ganzen Land, sagte der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, am Sonntag in einer Videoansprache. In der Azot-Chemiefabrik in Sjewjerodonezk haben ukrainischen Angaben zufolge Hunderte von Zivilisten Zuflucht gesucht. "Etwa 500 Zivilisten halten sich auf dem Gelände des Azot-Werks auf, 40 davon sind Kinder", sagte Hajdaj. Gelegentlich gelinge es dem Militär, einzelne Personen zu evakuieren.
Aber auch in der Westukraine wurden nach Angaben der Regionalregierung die Stadt Tschortkiw sowie ein Waffendepot in der Region Ternopil mit Raketen beschossen. Russland bereitet sich unterdessen laut dem ukrainischen Geheimdienst auf einen längeren Krieg vor.
Ortschaften um Sjewjerodonezk unter Feuer
Viele Ortschaften in der Region um Sjewjerodonezk (Sewerodonezk) stünden unter Feuer, sagte Hajdaj. "Es ist unmöglich, den Beschuss zu zählen." Besonders schwierig sei die Situation in dem Ort Toschkiwka südlich des Verwaltungszentrums. Dort versuchten die russischen Angreifer eine Verteidigungslinie zu durchbrechen. Teils hätten es die ukrainischen Streitkräfte geschafft, den Feind aufzuhalten.
Russische Streitkräfte zerstörten zudem laut Hajdaj eine weitere der drei Brücken zwischen Sjewjerodonezk und dessen Zwillingsstadt Lyssytschansk. Damit entfällt eine weitere mögliche Flucht- und Rückzugsroute über den Fluss Siwerskyj Donez. Ukrainische Truppen halten nach Angaben des Sjewjerodonezker Stadtoberhaupts, Olexander Strjuk, gut ein Drittel des Stadtgebiets.
Laut Kiew Luftangriffe gegen zivile Infrastruktur
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs in Kiew sind bei den anhaltend schweren Kämpfen im Donbass die russischen Truppen im Bereich des wichtigen Verkehrsknotenpunkts Bachmut zurückgedrängt worden. Es seien bis zu 150 Angreifer "vernichtet" worden. Von unabhängiger Seite überprüfen ließen sich diese Angaben nicht.
Der Generalstab in Kiew meldete eine Vielzahl von Kämpfen im Osten des Landes, darunter besonders auch in der Region Slowjansk im Gebiet Donezk. Immer wieder gebe es auch Luftangriffe gegen zivile Infrastruktur, heiß es. Laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax schossen russische Truppen auch drei ukrainische Kampfjets in der Nähe von Donezk und Charkiw ab.
Wie viele Angriffe es seit Kriegsbeginn gegeben hat, ist auf diesem Video zu sehen:
Waffendepot zerstört
In Ternopil haben russische Truppen laut einem Interfax-Bericht mit Kalibr-Lenkraketen ein großes Waffendepot zerstört. In dem Lager hätten sich europäische und amerikanische Waffen befunden, meldet die Nachrichtenagentur unter Berufung auf das russische Verteidigungsministerium.
Das westukrainische Tschortkiw ist nach Angaben der Regionalregierung am Samstagabend von vier Raketen getroffen worden. Eine Militäreinrichtung sei teilweise zerstört worden und es seien vier Wohngebäude beschädigt, teilt der Gouverneur von Ternopil, Wolodymyr Trusch, am Sonntag weiter mit. Es habe keine Toten gegeben, aber 22 Menschen seien ins Krankenhaus gebracht worden, darunter ein zwölfjähriges Kind. Die Raketen seien vom Schwarzen Meer aus abgefeuert worden.
Russland bereitet sich auf langen Krieg vor
Das russische Militär bereitet sich nach Einschätzung des ukrainischen Militärgeheimdienstes auf einen längeren Krieg vor. Die Planung der russischen Streitkräfte sei für 120 weitere Tage bis Oktober 2022 verlängert worden, berichteten die Militärexperten des US-amerikanischen Institute for the Study of the War (ISW) am Samstag (Ortszeit) unter Berufung auf Informationen von Geheimdienst-Vizedirektor Wadym Skibizkij. Das russische Militär werde seine Pläne abhängig vom Erfolg im Donbas aber weiter anpassen, dies geschehe nahezu monatlich.
Russischer Minister: Russland für immer gekommen
Bei einer Explosion in der von russischen Truppen besetzten ukrainischen Stadt Melitopol wurden vier Personen verletzt. Die Besatzungsbehörden gingen davon aus, dass ein Sprengsatz in einem Mülleimer neben ihrer Lokalverwaltung des Innenministeriums explodiert sei, berichtete die russische Nachrichtenagentur Tass am Sonntagabend. Es seien ausschließlich Zivilisten zu Schaden gekommen, hieß es. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden. Melitopol liegt im ukrainischen Gebiet Saporischschja, das zum Teil von russischen Truppen besetzt ist.
Unterdessen untermauerte der russische Bildungsminister Sergej Krawzow am russischen Nationalfeiertag Medien die Gebietsansprüche auf die Region Saporischschja mit einem Besuch ebendort. Russland sei für immer gekommen, sagte der Minister der Agentur Interfax zufolge in der Stadt Melitopol. "Ich wäre nicht gekommen, wenn es irgendwelche Zweifel gäbe", sagte der 48-Jährige am Sonntag.
Das Gebiet Saporischschja ist nach mehr als drei Monaten russischem Angriffskrieg weiter zu einem Teil unter ukrainischer Kontrolle. Das benachbarte südukrainische Gebiet Cherson ist komplett unter russischer Besatzung.
Während Krawzow den russischen Feiertag in der Ukraine beging, zeigte sich die russische Führung erneut siegessicher in dem Krieg, der am 24. Februar begonnen hat. Kremlchef Wladimir Putin verlieh am Tag Russlands Orden. Das Land stehe geeint und der Heimat ergeben, sagte er. In Moskau gab es ein Autokorso zur Unterstützung der russischen Armee bei deren Angriffskrieg gegen die Ukraine.
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