Grenzenloses Imperium: Was hinter Putins Großmachtfantasien steckt

Weggenommen? Nein, nein. Nur „zurückgeholt“ habe Peter der Große im 18. Jahrhundert die Gebiete in Schweden, sagt Wladimir Putin. Er sitzt zurückgelehnt in seinem Sessel, doziert: Seit Jahrhunderten hätten dort, wo der Zar später seine Hauptstadt St. Petersburg errichten sollte, Slawen gelebt. Darum hatte Russland auch ein Anrecht auf dieses Gebiet – und heute sei das ja genauso.
Der russische Präsident hat wieder zu einem historischen Rundumschlag ausgeholt, man kennt das von ihm. Schon den Einmarsch seiner Truppen in die Ukraine argumentierte er in einer TV-Ansprache; langatmig und historisch teils fragwürdig; auch vor der Attacke zeichnete er Ukrainer und Russen als „ein Volk“. Nur: Bei diesem Auftritt, einem demonstrativ lockeren Gespräch mit jungen Forschern, war etwas anders. Putin sagte erstmals öffentlich, dass es sein einziges Ziel sei, ukrainische Territorien zu erobern. Wie Zar Peter will Putin „russische Erde zurückholen“ – Land, das ihm seiner Auffassung nach zusteht.
Alte Argumente fehlen
Spannend ist dabei nicht nur, dass in seiner Argumentation die bisherigen Kriegsgründe völlig fehlen. Die „Entnazifizierung“, die „Befreiung des Donbass“, die die „Spezialoperation“ in der Ukraine bisher in jeder Rede legitimieren sollten, all das hörte man jetzt nicht mehr. Mittlerweile formuliert er sein Ziel ganz anders: Es geht um die Expansion russischen Territoriums dorthin, wo Russland ein historisches Anrecht verspürt. Seit Peter dem Großen habe sich ja „fast nichts geändert“ – jetzt stehe Russland vor ähnlichen Aufgaben wie der Zar damals. „Es ist auch unser Los: Zurückholen und stärken.“
Peter der Große Die Zaren dienten Putin schon öfter als Vorbild. Peter der Große gilt in Russland als Begründer des Imperiums, er
nannte sich auch Imperator. Im Schweden-Krieg (1700 bis 1721) erkämpfte er die Vorherrschaft an der Ostsee, ließ dort die neue Hauptstadt St. Petersburg bauen. Die Stadt steht angeblich auf Skeletten, weil Tausende Leibeigene starben. Peter, der ein großer Freund Europas war, war nicht zimperlich: Er ließ seinen Sohn Alexej wegen Hochverrats hinrichten
Neurussland Für die Region des Donbass bis zum Schwarzen Meer verwendet Putin schon seit 2014 den Begriff „Neurussland“, der auf Katharina die Große zurückgeht. Sie ließ in der Region aktiv Russen ansiedeln
Freilich ist der Expansionsdrang im russischen Diskurs nichts Neues. Immer wieder ventilieren Duma-Abgeordnete, es gelte, etwa das Baltikum zurückzuerobern – zuletzt hat ein Abgeordneter die „Heimholung“ Litauens per Gesetz vorgeschlagen.
Putin selbst hat das allerdings nie so ausdrücklich formuliert. Dass er in seiner Rede auch die estnische Stadt Narwa erwähnte, irritiert Beobachter besonders: Narwa ist eine Industriestadt an der Grenze, in der die größte russische Minderheit Estlands lebt – sie war seit dem Zerfall der UdSSR immer wieder Reibepunkt zwischen den beiden Gruppen. 1993 hielten die Russischsprachigen dort sogar ein verfassungswidriges Referendum über mehr Autonomie ab. Unterstützt wurde es vom damaligen Vizebürgermeister St. Petersburgs. Er hieß Wladimir Putin.

Keine Grenzen mehr
Ob Putin damit verklausuliert sagen will, dass er auch das Baltikum als historisch-russisch Territorium ansieht? Das kann durchaus sein, sagen Beobachter. Russland-Experte Anders Aslund sieht in Putins Äußerungen einen Beleg dafür, dass er auf „maximale territoriale Expansion“ abziele. Das muss aber nicht gleichbedeutend heißen, dass der Kreml auch einen Angriff auf diese Gebiete plane, zumal die russische Armee ja schon mit ihrer Vollinvasion der Ukraine gescheitert ist.
In der Ukraine kommentiert man Putins Aussagen jedenfalls mit einem gewissen Hohn. Michaylo Podoljak, der für Kiew die Friedensgespräche mit Moskau führt, nennt Putins Aussagen ein „Bekenntnis“, das zeige, dass er die Ukraine immer nur erobern wollte – unter dem Vorwand eines Genozids.
In Russland selbst wurde über Putins Gleichsetzung mit Peter dem Großen nur wohlwollend berichtet – ungeachtet der Tatsache, dass der Zar ein Schlächter war, der seinen eigenen Sohn ermorden ließ. Und auch wenn die Expansionspläne des Präsidenten damit nichts zu tun haben müssen: Dass die größte russische Suchmaschine Yandex in ihrem Kartendienst – vergleichbar mit Google Maps – seit Kurzem keine Staatsgrenzen mehr einzeichnet, sorgte bei vielen Nutzern für Irritation. Politisch sei die Entscheidung nicht, so das Unternehmen. Die Grenzen seien lediglich „nicht mehr so relevant.“
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