Russland warnt vor humanitärer Katastrophe in Mariupol

Russland warnt vor humanitärer Katastrophe in Mariupol
Mariupol soll völlig zerstört sein. Der Bürgermeister von Tschernihiw berichtet von katastrophaler Lage.

Tag 25 nach Beginn des russischen Angriffs:

Russland hat seine Angriffe auf die Ukraine nochmals verstärkt und nach eigenen Angaben wiederholt neuartige Hyperschallraketen eingesetzt. Mit den Raketen vom Typ "Kinschal" (Dolch) sei ein Treibstofflager der ukrainischen Armee in der Region Mykolajiw zerstört worden. Die humanitäre Lage in mehreren ukrainischen Städten verschlimmerte sich weiter. Für flüchtende Zivilisten wurden sieben humanitäre Korridore eingerichtet.

Die Ukraine hat der russischen Armee deshalb ein immer brutaleres Vorgehen mit zerstörerischem Artillerie-Beschuss vorgeworfen. Wegen vielfachen Scheiterns bei den Angriffen auf die Ukraine würden die Waffen gegen friedliche Städte gerichtet, schrieb der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak Twitter. 

Frontverlauf "eingefroren"

Der Frontverlauf ist nach ukrainischen Angaben allerdings "praktisch eingefroren". Sowohl die russische als auch die ukrainische Seite hätten nicht genug Kraft, um die Situation in die eine oder andere Richtung zu drehen, sagte Olexij Arestowitsch, Berater des Büroleiters von Präsident Wolodymyr Selenskij, am Sonntag bei einem Briefing. Es würden taktische Aktionen und Angriffe durchgeführt.

Der ukrainische Generalstab befürchtet das aktive Eingreifen des Nachbarlandes Belarus in den Krieg. Es seien Anzeichen der Vorbereitung belarussischer Streitkräfte auf eine direkte Invasion der Ukraine registriert worden, heißt es in einer Mitteilung auf Facebook.

Kämpfe gehen weiter

Die Kämpfe an den Frontabschnitten in der Ukraine sind auch in der vergangenen Nacht fortgesetzt worden. Die Lage in Mariupol wird immer schlimmer. Es sollen sich rund 400.000 Menschen in der Stadt befinden. In der Nacht sind russische Truppen weiter vorgedrungen. Laut einem Stadtrat hätten russische Streitkräfte in der vergangenen Woche mehrere Tausend Menschen gewaltsam aus der belagerten Stadt deportiert.

Zudem sei eine Kunstschule bombardiert worden. 400 Menschen hätten dort Schutz gesucht. Unter den Menschen, die in dem Gebäude Schutz gesucht hatten, waren laut dem Stadtrat Frauen, Kinder und Ältere. Das Gebäude sei bei dem Angriff am Samstag zerstört worden, hieß es bei Telegram. "Menschen liegen noch immer unter den Trümmern."

Russland hat die ukrainischen Streitkräfte in Mariupol aufgefordert, die Waffen niederzulegen. "Es hat sich eine schreckliche humanitäre Katastrophe entwickelt", erklärt der Leiter des Nationalen Zentrums für Verteidigung, Michail Misinzew, mit Blick auf die Lage in der Stadt. "Allen, die ihre Waffen niederlegen, wird ein freies Geleit aus Mariupol garantiert." Er kündigte an, Fluchtkorridore sollten am Montag ab 10.00 Uhr Moskauer Zeit (08.00 MEZ) geöffnet werden.

Verzweifelter Hilferuf 

In einem Video, dass der Nachrichtenagentur AP vorliegt, bittet Polizeioffizier Michail Vershnin um Hilfe: "Kinder und ältere Menschen sterben, die Stadt ist zerstört, dem Erdboden gleichgemacht." Er richtet sich unter anderem an US-Präsident Joe Biden und den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Die versprochene Hilfe sei bis jetzt nicht wirklich gekommen.

Russland setzt erstmals überhaupt Hyperschallraketen ein

Das russische Verteidigungsministerium erklärte, die Kinschal-Hyperschallraketen seien vom Luftraum der Krim auf ein Lager für Treib- und Schmierstoffe der ukrainischen Streitkräfte in der Region Mykolajiw abgefeuert worden. Von dort habe die ukrainische Armee die meisten Treibstofflieferungen für ihre Panzerfahrzeuge im Süden des Landes organisiert. Auch vom Kaspischen Meer abgeschossene Marschflugkörper des Typs Kalibr kamen laut Moskau zum Einsatz.

Russland hat diese Waffen als erstes Land der Welt entwickelt. Die Flugkörper können bei extremer Geschwindigkeit Höhe und Richtung ändern und somit gegnerische Luftabwehrsysteme überwinden.

Am Freitag war bereits erstmals eine Kinschal-Rakete abgefeuert worden. Dabei sei ein unterirdisches Waffenlager der ukrainischen Luftwaffe im Dorf Deljatyn zerstört worden - rund hundert Kilometer von der Grenze zum NATO-Mitgliedstaat Rumänien entfernt. Es war nach Einschätzung von Militärexperten das erste Mal überhaupt, dass Russland Hyperschallraketen in einem bewaffneten Konflikt einsetzte.

Ukraine beklagt immer brutalere russische Angriffe

Die Ukraine hat der russischen Armee ein immer brutaleres Vorgehen mit zerstörerischem Artillerie-Beschuss vorgeworfen. Wegen vielfachen Scheiterns bei den Angriffen auf die Ukraine würden die Waffen gegen friedliche Städte gerichtet, schrieb der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak am Sonntag, dem 25. Tag im russischen Angriffskrieg, auf Twitter. Er kritisierte auch den Einsatz der neuen russischen Hyperschallrakete "Kinschal" (Dolch) und der Rakete "Bastion".

Das russische Militär hatte über den Raketenbeschuss berichtet, allerdings betont, dass nur Ziele der ukrainischen Armee damit getroffen worden seien. Die ukrainischen und die russischen Angaben sind nicht unabhängig überprüfbar.

Sicherheitsrat verbietet Arbeit prorussischer Parteien

Auf politischer Ebene holte die ukrainische Regierung unterdessen zum Schlag gegen pro-russische Parteien im Land aus und ließ deren Arbeit bis auf weiteres verbieten. "Die Aktivitäten von deren Politikern, die auf Spaltung oder Kollaboration abzielen, werden keinen Erfolg haben, dafür aber eine harte Antwort erhalten", wurde Selenskij von der Ukrajinska Prawda zitiert.

Zu den betroffenen Parteien gehören unter anderem die "Oppositionsplattform für das Leben" und der "Oppositionsblock", die auch im Parlament vertreten sind. Sie gelten ebenso wie die übrigen neun nunmehr verbotenen außerparlamentarischen Parteien als euroskeptisch, antiliberal oder als prorussisch.

Selenskij-Video mit mit martialischen Worten

Selenskij wandte sich unterdessen in einer Videobotschaft mit martialischen Worten über schwere russische Kriegsverluste an die Bevölkerung Russlands. "An den Brennpunkten besonders schwerer Kämpfe sind unsere vordersten Abwehrlinien mit Leichen russischer Soldaten praktisch überhäuft. (...) Und diese Leichen, diese Körper werden von niemandem geborgen", fuhr er fort. "Und über sie jagen sie neue Einheiten hinweg, irgendwelche Reserven, die die russischen Befehlshaber irgendwo sammeln."

Er könne verstehen, das Russland über schier endlose Reserven an Soldaten und Militärgerät verfüge. "Aber ich möchte von den Bürgern Russlands wissen: Was hat man mit Ihnen in diesen Jahren getan, dass Sie Ihre Verluste nicht bemerkt haben?". Schon jetzt seien mehr als 14.000 russische Soldaten getötet worden. "Das sind 14.000 Mütter, 14.000 Väter, Ehefrauen, Kinder, Verwandte, Freunde - und Ihnen fällt das nicht auf?"

Die ukrainische Darstellung zu den getöteten russischen Soldaten lässt sich nicht unabhängig überprüfen - ebenso wenig wie jene zu den eigenen militärischen Verlusten, die die Staatsführung vor rund einer Woche auf etwa 1.300 Soldaten bezifferte. Die russische Seite hat bisher offiziell nur knapp 500 eigene Gefallene bestätigt.

Nächtliche Angriffe auf Kiew

In Kiew heulten am Samstagabend erneut die Sirenen, wie Bewohner in Online-Netzwerken mitteilten. Auch die Stadt Charkiw im Nordwesten wurde am Samstag weiter bombardiert, dabei wurden nach Angaben der örtlichen Behörden ein Mann und ein neunjähriges Kind getötet. Insgesamt starben in der russischsprachigen Großstadt seit Kriegsbeginn den örtlichen Behörden zufolge mindestens 500 Menschen.

Tote nach Angriff auf Kaserne am Samstag

Nach einem Raketenangriff russischer Truppen auf eine Kaserne in Mykolajiw im Süden der Ukraine sollen Helfer am Samstag mindestens 50 Tote aus den Trümmern geborgen haben. Insgesamt hätten rund 200 Soldaten in dem Gebäude geschlafen, als die Raketen einschlugen, berichtete die "Ukrajinska Prawda" am Samstag. Knapp 60 Verletzte seien in umliegende Krankenhäuser gebracht worden. Von unabhängiger Seite bestätigt sind auch diese Informationen nicht. In Mariupol wurde nach ukrainischen Angaben eine große Stahlfabrik schwerbeschädigt.

Tschernihiw unter Beschuss

Der Bürgermeister von Tschernihiw wies in einem dramatischen Appell auf die prekäre Lage in der von russischen Truppen eingekesselten nordukrainischen Stadt hin. "Der wahllose Artilleriebeschuss der Wohngebiete dauert an, dabei sterben friedliche Menschen", sagte Wladislaw Atraschenko laut UNIAN. Die Stadt erlebe eine humanitäre Katastrophe. "Es gibt keine Stromversorgung, kein Wasser, keine Heizung, die Infrastruktur der Stadt ist vollständig zerstört."

Bahnverbindungen nach Belarus gekappt

Belarussische Bahnarbeiter sollen unterdessen alle Schienenverbindungen zwischen Belarus und der Ukraine unterbrochen haben. Der Vorsitzende der ukrainischen Eisenbahnen, Olexander Kamyschin, dankte am Samstag den Kollegen in Belarus für die nicht näher beschriebene Aktion. "Mit dem heutigen Tag kann ich sagen, dass es keinen Bahnverkehr zwischen Belarus und der Ukraine gibt", wurde er von UNIAN zitiert. Das würde bedeuten, dass russische Truppen in der Ukraine über diese Strecken weder Verstärkungen noch Nachschub erhalten.

Sieben humanitäre Korridore am Sonntag

Über die Wege sollten auch Hilfsgüter in die Städte gebracht werden, teilte die ukrainische Vize-Regierungschefin Irina Wereschtschuk in Kiew mit. Angelegt seien die Korridore in den Gebieten um die Hauptstadt Kiew und Charkiw sowie aus der besonders schwer von Kämpfen betroffenen Hafenstadt Mariupol in Richtung der Stadt Saporischschja.

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