Kolumbien: Aufbruch in der Verliererstraße

Pädagogen kümmern sich um die Straßenkinder von Medellin.
Speziell geschulte Pädagogen eröffnen den Gestrandeten neue Chancen.

Mit sechs Monaten „verschenkte“ sie ihre Mutter – sie hatte selbst nicht genug, um die kleine Flor (Blume) durchzubringen. Das Mädchen wuchs bei einem Ehepaar in ärmlichen Verhältnissen in einer ländlichen Gegend Kolumbiens auf. Mit elf Jahren haute Flor ab und landete in der Gosse der Metropole Medellin – als Straßenkind. Um zu überleben, trug sie das Einzige, das sie hatte, zu Markte: Ihren Körper, den sie an Freier verkaufte. Gewalt, Schwangerschaften samt Abtreibungen folgten. Und Drogen, um die Tristesse des Alltags am Straßenstrich wegzudrönen.

Es sind Heranwachsende wie Flor, die dem Theologen Hartwig Weber seit Jahrzehnten ein Anliegen sind. Sein Credo: „Gerade diese von der Gesellschaft abgeschriebenen Menschen haben ein Anrecht darauf, dass sich jemand um sie kümmert“, so der Pädagoge im KURIER-Gespräch. Es sei zwar gut, dass die Problematik ein Mal pro Jahr mit dem Tag des Straßenkindes, der heute begangen wird, in den internationalen Fokus gerückt werde. Viel wichtiger sei aber eine andauernde und nachhaltige Betreuung der Gestrandeten.

Dafür hat Weber eine eigene Straßenkinder-Pädagogik entwickelt, die in einem viersemestrigen Modellversuch in Kolumbien seit dem Jahr 2000 gelehrt wird. „Rund 50 Lehramtsstudenten eines Jahrganges erhalten eine spezielle Unterweisung in der Materie. Herzstück ist die Arbeit am Rojas-Pinilla-Platz in Medellin, wo auch der Straßenstrich zu Hause ist. Unsere Studenten gehen dort hin und versuchen Kontakt mit den Jugendlichen aufzunehmen“, erzählt Weber.

Ein offenes Ohr

Fragen und Zuhören seien die wichtigsten Dinge. Wobei die angehenden Pädagogen dabei „Geschichten zu hören bekommen, die jeden Fantasy- und Science-Fiction-Film in den Schatten stellen“, wie die 18-jährige Melissa Arenas formuliert.

Primäres Ziel sei es, so Weber, dass sich die Jugendlichen ihrer Lebenssituation bewusst werden, um dann mit ihnen gemeinsam eine Zukunftsperspektive zu erarbeiten. „Egal ob kleiner Drogendealer oder junge Prostituierte – fast in allen Fällen haben die Kinder die Schule schon sehr früh abgebrochen. Wir versuchen dann eine Brücke zu bauen zwischen Straße und Klassenzimmer.“

Don-Bosco-Salesianer

Dabei arbeite man eng mit den Salesianern der Stadt zusammen, die in Medellin die „Ciudad Don Bosco“ betreiben und deren österreichische Partner-Organisation Straßenkinder-Projekte weltweit finanziell unterstützt (dieser KURIER-Ausgabe liegt ein Erlagschein für Spenden bei). Die „Ciudad Don Bosco“ ist eine Ausbildungsstätte mit angeschlossenen Übernachtungsmöglichkeiten, in der die Burschen und Mädchen den schulischen Faden wieder aufnehmen können.

Nicht alle, die einen solchen Neustart wagen, schaffen es auch. „Einige fallen ab, landen wieder auf der Straße – und sind plötzlich ganz weg“, so der engagierte Deutsche. Das ehemalige Straßenkind Carlos Ramirez weiß, warum: „Am Ende gibt es nur drei Alternativen: das Krankenhaus, das Gefängnis oder den Tod.“

Hartwig Weber gibt dennoch nicht auf, weil er sich diesem Rand der Gesellschaft verpflichtet fühlt. „Auch wenn wir nur für einen Einzigen ein besseres Leben schafften – der Aufwand lohnt sich“, betont der Pädagoge und verweist auf das Beispiel der heute 18-jährigen Flor. Sie lernte bei den Salesianern erst so richtig lesen und schreiben, absolvierte danach eine Lehre als Druckerin, die sie soeben abgeschlossen hat. Nebenbei interessierte sie sich für die digitale Welt und wird demnächst als Web-Designerin ihre kreativen Dienste anbieten.

BUCHTIPP: Hartwig Weber, Sor Sara Sierra Jaramillo. Bildung gegen den Strich. Don-Bosco-Verlag. 235 S. 20,60 €. Im Buchhandel oder bei Jugend Eine Welt, Sankt-Veit-Gasse 21, 1130 Wien.

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