Russland gegen Ukraine: Können wir da neutral bleiben?

Russland gegen Ukraine: Können wir da neutral bleiben?
Mit Schweden und Finnland sind zwei vormals neutrale Staaten wegen des russischen Angriffskriegs der NATO beigetreten - in Österreich ist die Lage eine andere.

Der russische Angriff auf die Ukraine hat die europäische Sicherheitslage massiv verändert, den konventionellen Krieg wieder ins Bewusstsein der Europäer gebracht – und europaweit zu einem Umdenken in der Verteidigungspolitik geführt. Mit Schweden und Finnland haben zwei Staaten beschlossen, sich der NATO anzuschließen, die Wehretats steigen europaweit. In Österreich erklärte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) eine Debatte über die Neutralität rasch für beendet – wohl auch mit Blick auf die Stimmungslage im Land: Laut einer Umfrage vom Jänner dieses Jahres sind 78 Prozent der Österreicher für eine Beibehaltung der Neutralität, 41 Prozent würden ihr Land „auf keinen Fall“ mit der Waffe verteidigen.

Kritiker sehen dies als Ergebnis der „Nicht-Debatte“, beziehungsweise mangelnde Information über die Bedeutung der Neutralität - im Kontext der geopolitischen Veränderungen sei es notwendig, die Neutralität zumindest zu diskutieren. Die Bevölkerung denke, „Österreich ist neutral und damit hat es sich“, sagte etwa Irmgard Griss auf einer Podiumsdiskussion und forderte mehr Aufklärung über das Thema. „Österreich ist militärisch neutral, aber nicht politisch“, betont Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) stets. Aber was besagt eigentlich das Neutralitätsgesetz? Wie stehen die einzelnen Parteien zu dem Thema – und was hat der Krieg in der Ukraine in der österreichischen Sicherheitsdebatte verändert? 

Der KURIER liefert Antworten:

Was besagt das Neutralitätsgesetz?

(1) Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen.

(2) Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.

Wie positionieren sich die österreichischen Parteien?

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine war in Österreich sofort die Debatte aufgebrochen, wie in diesem Fall die Neutralität auszulegen sei. Es gab offene Briefe von Diplomaten und Experten, die eine breite Diskussion über die Aktualität der Neutralität forderten. Im Parlament gab es diese gewünschte Debatte aber nicht.

Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) erklärte damals sofort, dass Österreichs Neutralität nicht zur Diskussion stehe. Genauso äußerten sich Verteidigungsministerin Klaudia Tanner oder Außenminister Alexander Schallenberg. Im Hinblick auf den Ukrainekrieg wurde die Definition ausgegeben: Moralisch stehe Österreich auf der Seite von Kiew, militärisch verhalte man sich aber neutral. 

Auf der gleichen Linie sind die Grünen zu finden, wie Vizekanzler Werner Kogler etwa beim Bundeskongress in Graz betonte. Die SPÖ will ebenfalls am Neutralitätsgesetz nicht rütteln. Dort stehen allerdings nicht alle Abgeordneten moralisch so stark hinter der Ukraine wie etwa in der ÖVP.

Die FPÖ verlangt einen viel strikteren Neutralitätskurs. Für sie gilt auch nicht, dass man politisch und moralisch auf einer Seite - in diesem Fall die Ukraine - stehen kann. Sie lehnt auch ab, dass sich Österreich an dem Luftabwehrbündnis Sky shield beteiligt, obwohl dort auch die neutrale Schweiz dabei ist.

Die Neos sind jene Partei, die gerne eine Debatte über das Neutralitätsgesetz hätte. Sie hält das Gesetz für verstaubt und nicht mehr zeitgemäß. Im Eu-Wahlkampf war der pinke Kandidat Helmut Brandstätter der einzige, der offensiv für eine EU-Armee eingetreten ist.

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Widerspricht es der Neutralität, wenn der ukrainische Präsident im österreichischen Parlament auftritt?

Heftige Diskussionen gab es im März 2023 rund um den Videoauftritt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi im österreichischen Parlament. Für die FPÖ war das mit der österreichischen Neutralität nicht vereinbar. Die blaue Fraktion verließ deswegen auch geschlossen den Saal. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) verwies sehr wohl darauf, dass diese Rede möglich sei. Er bezog sich auf die Formel: Österreich sei militärisch neutral, aber moralisch und unterstützend mit Hilfsgütern auf der Seite der Ukraine. Dem schlossen sich auch die Redner von der SPÖ, den Grünen und den Neos an. Nach der Ansprache gab es allerdings einen Wirbel um die SPÖ, weil nur sehr wenige rote Abgeordnete dazu ins Parlament gekommen waren.

Was hat der Ukrainekrieg in der österreichischen Verteidigungspolitik bewirkt?

Wie überall in Europa fand ein rasantes Umdenken statt. War man zu Beginn der aktuellen Regierungsperiode davon ausgegangen, dass konventionelle Kriege in Europa der Vergangenheit angehören würden und somit auch schwere Waffengattungen weiterhin reduziert werden müssten, hat sich die Lagebeurteilung seit dem 24. Februar 2022 um 180 Grad geändert. Mehr als 17 Milliarden Euro wurden für die Nachrüstung des Bundesheers bereitgestellt – bis 2032 soll das Österreichische Bundesheer wieder verteidigungsfähig sein.

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Dazu gehört auch der Beitritt zur Initiative „Sky Shield“, einem Raketenabwehrschirm, an dem sich neben Österreich 21 andere Staaten (unter anderem die Schweiz) beteiligen. Der Einsatz heimischer Abwehrraketen erfolgt ausschließlich über österreichischem Luftraum. Die Entscheidung, wann die Abwehr-Raketen aktiviert werden, bleibt in heimischer Hand. Völkerrechtler wie Walter Obwexer sehen Sky Shield mit der Neutralität vereinbar. 

Eine neue Sicherheitsstrategie lässt jedoch auf sich warten – in der Aktuellen steht etwa geschrieben: „Die Folgen des früheren Ost-West-Konflikts bestimmen nicht mehr wie bisher die sicherheitspolitische Agenda“. Bis zum Ende der Legislaturperiode wollen sich die Regierungsparteien endgültig auf eine neue Sicherheitsstrategie geeinigt haben, in der der russische Angriff auf die Ukraine die Hauptgrundlage für das sicherheitspolitische Handeln Österreichs bilden soll.

Wie unterstützt Österreich die Ukraine – und ist das mit der Neutralität vereinbar?

Österreich lieferte der Ukraine unter anderem 10.000 Schutzhelme sowie 9.000 Stück Splitterschutzwesten aus den Beständen des Verteidigungsministeriums. Außerdem beteiligt sich Österreich an den Kosten der „European Union Military Assistance Mission Ukraine“ (EUMAM), die ukrainische Soldaten ausbildet. Aktive Mitwirkung gibt es keine. Auch in die Europäische Friedensfazilität, die die Ukraine mit letalen und nichtletalen Gütern beliefert, zahlt Österreich ein (Stand März 2024: 157,8 Millionen Euro). Wird über die Lieferung Letaler Güter abgestimmt, enthält sich Österreich „konstruktiv“. Laut dem „Ukraine Support Tracker“ des Kieler Instituts für Weltwirtschaft hat Österreich – Stand 30. Juni 2024 – die Ukraine mit 719 Millionen Euro finanziell und humanitär unterstützt. Dies ist laut Neutralitätsgesetz mit der Neutralität vereinbar – ebenso wäre etwa ein Entminungskurs für ukrainische Soldaten durch Angehörige des Österreichischen Bundesheeres kein Problem in puncto österreichischer Neutralität.  

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Gibt es aktuell Debatten über die Neutralität?

Im öffentlichen Raum sind sie nahezu erloschen, auch wenn einige Initiative eine Debatte einfordern. In der Innenpolitik sprechen lediglich die NEOS darüber.

Schützt uns die Neutralität im Ernstfall?

Dass ein hybrider Krieg längst stattfindet, zeigen etwa zahlreiche Hackerangriffe auf österreichische Institutionen. Trotz der verschärften Sicherheitslage ist es aus aktueller Sicht unwahrscheinlich, dass ein anderer Staat Österreich mit konventionellen Mitteln angreift. Österreich ist nahezu vollständig von NATO-Staaten umgeben – der NATO-Bündnisfall träte also ein, bevor ein Landkrieg auf österreichischem Boden entbrennen könnte. 

Sollte der Ernstfall jedoch eintreten, könnte das Österreichische Bundesheer auf sich allein gestellt sein.

Kritiker der österreichischen „Trittbrettfahrer-Politik“ werfen ein, Österreich als EU-Mitglied mehr für die gemeinsame europäische Verteidigung tun. Soldaten des Bundesheeres sind etwa Teil der sogenannten "European Union Rapid Deployment Capacity", einer "Weiterentwicklung" der EU-Battlegroups, die allerdings bisher nie im Einsatz waren. Die Aufgabe dieses etwa brigadestarken Verbands könnte es etwa sein, EU-Bürger aus Krisengebieten zu evakuieren. Für eine Verteidigungsoperation eines EU-Staats sind diese Kapazitäten zu gering. 

Würde ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union angegriffen, könnte sich Österreich auf die Irische Klausel berufen und müsste diesen Staat nicht militärisch unterstützen. 

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