Kachowka-Staudamm: Russische Besatzungsbehörden verhängen Notstand

Gewaltige Überschwemmungen nach Zerstörung des Staudamms
UNO-Nothilfekoordinator erwartet "schwerwiegende und weitreichende Folgen für Tausende von Menschen in Südukraine".

Einen Tag nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Südukraine haben die russischen Besatzungsbehörden den Notstand in dem von Russland kontrollierten Teil der Region Cherson verhängt. Dies meldete die russische Nachrichtenagentur TASS unter Berufung auf Rettungsdienste. Sieben Personen wurden in den nahe gelegenen Überflutungsgebieten vermisst, teilte der von Russland eingesetzte Bürgermeister der Stadt Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, mit.

Der Wasserstand ging in der überschwemmten Stadt Nowa Kachowka laut den russischen Besatzungsbehörden allmählich wieder zurück. Der Wasserstand auf den zuvor überfluteten Straßen beginne zu sinken, teilte die von Russland installierte Stadtverwaltung mit. Flussabwärts ist der Wasserstand am Ufer des Dnipro indes weiter angestiegen.

➤ Sabotage oder Terror? Was hinter der Zerstörung des Staudamms steckt

Am schwierigsten sei die Lage im Viertel Korabel in der Großstadt Cherson, erklärte der stellvertretende Kabinettschef des ukrainischen Präsidenten, Oleksij Kuleba. Das Wasser habe dort einen Stand von 3,5 Metern erreicht, mehr als 1.000 Häuser seien überflutet. "Die Bewohner sitzen auf den Dächern ihrer Häuser und warten auf ihre Rettung. Das sind russische Verbrechen gegen Menschen, die Natur und das Leben an sich", schrieb Kuleba auf Telegram.

Der in russisch besetztem Gebiet liegende Kachowka-Staudamm am Dnipro war bei einer Explosion in der Nacht auf Dienstag großteils zerstört worden, große Mengen Wasser traten aus. Ukrainische Behörden leiteten die Evakuierung von rund 17.000 Menschen ein, auf der von Russland besetzten Seite sollten weitere 25.000 Anrainer fortgebracht werden. Die Ukraine und Russland machen einander gegenseitig für die Zerstörung des Damms verantwortlich.

Der UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths erklärte vor dem Sicherheitsrat, dass der Dammbruch "schwerwiegende und weitreichende Folgen für Tausende von Menschen in der Südukraine auf beiden Seiten der Frontlinie haben wird, da sie ihre Häuser, Nahrungsmittel, sauberes Wasser und ihre Lebensgrundlage verlieren werden". Das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe werde erst in den kommenden Tagen sichtbar.

Bisher sind keine Todesfälle bekannt. US-Regierungssprecher John Kirby geht jedoch davon aus, dass die Überschwemmungen wahrscheinlich "viele Todesfälle" mit sich bringen. Experten zufolge sollten die Fluten am Mittwoch ihren Höhepunkt erreichen.

Der ukrainische Generalstab bezeichnete die Sprengung des Kachowka-Staudamms am Mittwoch als russisches Kriegsverbrechen. Ziel sei es gewesen, den Vormarsch der ukrainischen Truppen in der Region zu verhindern, teilte der Stab am Mittwoch in seinem Morgenbulletin in Kiew mit.

Russland und die Ukraine gaben sich gegenseitig die Schuld an der Zerstörung des Stausees, beide Seiten sprechen von einem "Terroranschlag" und einer beispiellosen Katastrophe für die Umwelt. Kiew wirft russischen Truppen vor, das Wasserkraftwerk und den Staudamm vermint und gesprengt zu haben. Moskau wiederum behauptet, die Anlage sei durch ukrainischen Beschuss zerstört worden und fordert eine internationale Untersuchung.

Experten des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington gehen angesichts der Beweise und der Argumente davon aus, dass Russland den Staudamm absichtlich zerstört hat. Zugleich weisen sie darauf hin, dass eine endgültige Bewertung der Verantwortung derzeit nicht möglich sei.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte an, Klage wegen des Kriegsverbrechens vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag einzureichen. Er verglich die Sprengung des Staudamms mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe. Zerstört werden durch die Wasserfluten die Trinkwasserversorgung in der Region und landwirtschaftliche Nutzflächen. "Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten", sagte er.

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Südukraine rechnen britische Geheimdienste mit weiteren Folgen. "Die Struktur des Damms wird sich in den nächsten Tagen voraussichtlich weiter verschlechtern, was zu weiteren Überschwemmungen führen wird", teilte das britische Verteidigungsministerium am Mittwoch mit. Auf Fotos und Videos hat es den Anschein, dass ein Teil der Staumauer noch steht. Weitere Angaben machte die Behörde nicht, auch nicht dazu, wer für die Zerstörung verantwortlich sein könnte.

Der britische Premierminister Rishi Sunak sagte auf einer Reise in die USA, britische Geheimdienste würden die Beweise zur Zerstörung noch prüfen. Derzeit sei es zu früh, um ein endgültiges Urteil über die Ursachen des Dammbruchs zu fällen. Sollte Russland verantwortlich sein, würde dies "den größten Angriff auf die zivile Infrastruktur in der Ukraine seit Kriegsbeginn" darstellen und ein "neues Tief" der russischen Aggression, sagte Sunak.

➤  Mehr lesen im Liveticker zum Ukraine-Krieg

Unterdessen gingen die Kampfhandlungen weiter. Zwei Städte in der westlichen russischen Region Kursk waren am Mittwoch ohne Strom und ein Mann wurde verletzt, nachdem die Ukraine in der Nacht Sprengstoff auf ein Umspannwerk in der Nähe der Grenze geworfen hatte, erklärte der Gouverneur der Region Roman Starovoyt. In Cherson ist nach Angaben der Behörden durch russischen Artilleriebeschuss ein Mensch getötet worden. Die russischen Truppen hätten im Laufe des vergangenen Tages die Region mehrfach beschossen, auch die gleichnamige Regionalhauptstadt Cherson, teilte Gouverneur Olexander Prokudin über den Kurznachrichtendienst Telegram mit. Dabei seien ein Mensch getötet und ein weiterer Mensch verletzt worden.

Kommentare