Juncker: Merkel beeindruckte durch Detailkenntnis und Bescheidenheit

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Merkel habe ihre Gesprächspartner nie "ihre volle Machtfülle spüren lassen", meint der ehemalige EU-Kommissionspräsident.

Der langjährige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat die scheidende deutsche Kanzlerin Angela Merkel als "perspektivisch agierende Europapolitikerin" gewürdigt. Im Interview mit dem Ö1-"Mittagsjournal" am Samstag sagte Juncker, Merkel habe "von Anfang an durch ihre Detailkenntnis beeindruckt". Er hob die große "Zuhörbereitschaft" der deutschen Kanzlerin hervor, "die Teile ihres europäischen Erfolgs erklärt".

Allen zugehört

Merkel sei eine "bescheidene Person", die ihre Gesprächspartner nie "ihre volle Machtfülle spüren hat lassen". Ihre "große Tugend" bestand laut Juncker darin, "dass sie allen gleichmäßig zugehört hat", auch den Vertretern kleiner und mittlerer EU-Staaten. "Jeder fühlte sich bei ihr mit seinen Sorgen aufgehoben", so Juncker.

Die deutsche Kanzlerin habe ihre europäische Aufgabe "sehr ernstgenommen", sagte Juncker. Seiner Auffassung nach habe Merkel stets eine "rationale Annäherungsweise an europäische Dinge" gehabt. Sie habe immer gefragt, ob Beschlüsse auf EU-Ebene auch "für die nächsten zehn bis 15 Jahre tragfähig sind". Als Naturwissenschafterin und "perspektivisch agierende Europapolitikerin" habe Merkel "die Dinge von ihrem Ende her betrachtet".

Zu Merkels Verhältnis zu Österreich auf EU-Ebene meinte Juncker, es habe "nie einen immerwährenden Disput zwischen Deutschland und Österreich" gegeben. Merkel habe sich Österreich gegenüber "immer korrekt verhalten, ohne sich allerdings alle Bedenken, die Österreich in Europa vorgebracht hat, zu eigen zu machen".

So sei die deutsche Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage "dezidiert anderer Auffassung" als Österreich gewesen. In der Euro-Frage hat sie früher eingelenkt als Österreich. "Österreich hat bis zum Schluss einen Anti-Griechenland-Kurs verfolgt, Merkel hatte das inzwischen schon aufgegeben", so Juncker.

Kein Alleingang

Mit Ausnahme der Flüchtlingsfrage falle ihm zum Thema Deutschland und Österreich nicht sehr viel Widersprüchliches ein, sagte der ehemalige Kommissionspräsident. Man müsse in diesem Zusammenhang auch "unterscheiden zwischen dem, was nationale Regierungschefs zuhause vermelden, und dem, was sie im Europäischen Rat sagen".

Im Bezug auf Merkels Flüchtlingspolitik von 2015 und ihre Aussage "Wir schaffen das!" verwehrte sich Juncker dagegen, von einem Alleingang der deutschen Kanzlerin zu sprechen. "Das war kein Alleingang", sagte er: "Merkel hat die Grenzen nicht geöffnet, sie hat die Grenzen nicht geschlossen - das ist mehr als eine Nuance."

Die deutsche Kanzlerin habe "in ihrer Verantwortung als europäische Staatsfrau auf die Lage reagiert". Dabei "gab es nicht so viel Widerspruch in Europa, als man dächte - das sah nur von Österreich betrachtet so aus". Dass Österreich die Flüchtlingspolitik Merkels nicht mitgemacht habe, bezeichnete Juncker als "Fehler".

Grundregeln akzeptieren

Wenn es 2015, wie von ihm vorgeschlagen, zu einer solidarischen Umverteilung der Flüchtlinge gekommen wäre, "wäre die Flüchtlingskrise wesentlich weniger bedrückend, als sie es zur Zeit ist", bedauerte Juncker. "Verfolgte Menschen müssen in Europa Zuflucht finden - wer sich dagegen sperrt, steht auf der falschen Seite der Geschichte", stellte er klar.

Zum EU-internen Konflikt mit Ungarn und Polen sagte Juncker, das Vorgehen seitens der EU sei "keine Sanktionskeule, sondern Rechtsvollzug". Es gebe europäische Verträge und Rechtsregeln und "wer dagegen verstößt, muss mit den Folgen dessen, was er tut oder unterlässt, rechnen."

Die "Vorherrschaft des europäischen Rechts" müsse Gültigkeit behalten. "Nicht jeder kann Geld aus europäischen Kassen beziehen, wenn er die Grundregeln nicht respektiert", ergänzte Juncker und fügte hinzu, er würde sich wünschen, "dass Österreich Teil derer ist, die auf den Wert der Rechtsnorm in Europa bestehen".

Zum Thema Klimawandel und EU betonte Juncker den gemeinsamen Beschluss der Kommission, dass die EU klimaneutral werden müsse. Darüber hinaus müsse Europa auch sozialer werden. Die Herausforderung bestehe darin, "die Schnittmengen so festzulegen, dass daraus ein großes Ganzes wird, eine Politik aus einem Guss".

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