Frau Merkels heikles Spiel auf Zeit
Die meisten ihrer Kollegen hatten das Ratsgebäude schon Richtung Flughafen verlassen, als Angela Merkel kurz vor Mitternacht noch immer Rede und Antwort stand zu dem, was in den Stunden zuvor beim informellen Mini-Gipfel besprochen worden war. Ganz Merkel, ließ sie sich auf nichts festlegen, was nicht tatsächlich schon Fakt war.
Die Übervorsichtigkeit ist zwar typisch für sie, doch Merkel steckt dieser Tage in einer verzwickten Lage: Sie hat – wenn auch widerwillig und unter dem Druck, dass die Sozialdemokraten längst Martin Schulz ins Rennen geschickt hatten – vor der Wahl mit ihren europäischen Parteifreunden Jean-Claude Juncker als den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei für die Kommissionsspitze nominiert.
Kein Automatismus
Die Botschaft, die Schulz und Juncker im Wahlkampf verkündeten, war simpel: Gewinnen die Sozialdemokraten, wird Schulz Chef der Kommission; gewinnt die Volkspartei, wird es Juncker.
Doch die EU-Verträge sind nicht so einfach, es gibt keine Direktwahl des Kommissionschefs: Er wird von den Regierungschefs nominiert und vom Parlament gewählt. Das macht einen Zwischenschritt nötig, der einer Regierungsbildung entspricht: Juncker als "Kanzlerkandidat" muss sich mit den Mitgliedsstaaten und den großen Fraktionen im Parlament auf ein großes Paket inklusive "Regierungsprogramm" für die Kommission für die nächsten fünf Jahre einigen. Es gibt keine Garantie, dass Juncker das schafft. Und: Es wird dauern. "Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit", sagt Merkel.
Für die Optik ist das natürlich schlecht: Am Sonntag steht Juncker als Wahlsieger da, am Dienstag unterstützt ihn nur eine Handvoll Regierungschefs explizit. Das liegt aber auch daran, dass die Person Juncker – im Gegensatz zum Wahlkampf – nicht im Zentrum der Debatte steht.
Inhalte statt Namen
Am Gipfel wurde klar:Keiner seiner Unterstützer wird wegen ihm eine Krise der EU-Institutionen riskieren. Umgekehrt gilt das genauso: Kommt man sich inhaltlich zwischen den Staaten und mit dem Parlament nahe genug, wird es nicht an Juncker scheitern. Gut möglich, dass Merkel selbst Juncker verhindern will. Aber auch ihre Entscheidung wird am Ende – so oder so – mehr vom Verhältnis zu den Partnern in Paris, Rom, Warschau und London geprägt als vom Namen des Kommissionschefs.
Bei einer Kampfabstimmung am Dienstag wäre Juncker womöglich gewählt worden, doch hätte sie die Konsensfähigkeit im Rat beschädigt. Diese offene Konfrontation soll vermieden werden, in dem am Ende nicht über Juncker, sondern ein ganzes (Personal-)Paket (Rats- und Parlamentspräsident, Außenbeauftragter) mit ihm abgestimmt wird. Bis dahin geht es weiter im Merkel-Takt: In kleinen Schritten; vorwärts zwar, aber langsamer, als vielen lieb ist.
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