Timoschenko: "Kommt sie jetzt, war alles umsonst"

Glaubt man den Menschen auf dem Maidan, dann ist Timoschenkos große Zeit vorbei.
Sie gilt als Gesicht der Revolution – doch von jener des Jahres 2004. Die ehemalige Premierministerin will Präsidentin der Ukraine werden. Viele in der Protestbewegung haben etwas dagegen.

Geht man vom Maidan über die Chreschtschatyk-Straße in Richtung Bessarabska Rynok, wo einst die Lenin-Statue stand, kommt man unweigerlich an einem Protestcamp der anderen Art vorbei. Vor der Barrikade des Maidan-Platzes neben dem zentralen Kaufhaus ist der Gehsteig zugepflastert mit Dutzenden Zelten und Plakatwänden – alles für die Freilassung Julia Timoschenkos. Seit Jahren stehen diese Zelte hier – und fast ebenso lange sind sie verwaist. Irgendwie sind sie einfach geblieben. Wie und wieso blieb ein Mysterium.

Hang zur Dramatik

Jetzt ist sie also frei, die ehemalige Premierministerin der Ukraine, und sie hegt offenbar Ambitionen, ins politische Rampenlicht zurückzukehren. Präsidentin will sie werden. Ein Amt, auf das sie anscheinend als Galionsfigur der Orangenen Revolution 2004 Appetit bekommen und das ihr Viktor Janukowitsch 2010 vor der Nase weggeschnappt hatte.

Es war am vergangenen Samstag, als Julia Timoschenko auf dem Maidan in Kiew nach ihrer Freilassung eine vielerorts als emotional und eindringlich beschriebene Rede gehalten hatte – unter Tränen, in einem Rollstuhl sitzend. Aber es ist gerade dieser Hang zur Dramatik, der nach den Ereignissen der vergangenen Wochen und Monate nicht gut ankommt in den Reihen der Protestbewegung.

"Sie kommt hierher, dank uns, als wären wir nur für sie drei Monate lang hier gestanden", sagt ein Mann um die 30. Einer, der sie, wie er sagt, einmal gewählt hat. So wie er denken viele auf dem Protestplatz: "Sollte sie jetzt kommen, war alles umsonst."

Timoschenko im Porträt

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Ukrainian deputy Julia Tymoshenko, an ally of opposition presidential candidate Viktor Yushchenko wearing an orange campaign scarf, gestures after parliaments voting in favour of sacking the government during a parliamentary session in Kiev, December 1, 2
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Ukrainian opposition firebrand Julia Tymoshenko, an ally of presidential candidate Viktor Yushchenko, delivers a speech at Yushchenkos headquarters in Kiev, December 26, 2004. Liberal challenger Yushchenko won a re-run of Ukraines rigged presidential elec
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Ukraines Prime Minister Yulia Tymoshenko speaks during a special session at the parliament in Kiev, March 25, 2005. Ukrainian parliament started debates on a revised 2005 state budget. REUTERS/Gleb Garanich
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dapdThis combination of two photos shows on the left, in a Dec. 29, 2009 file photo, then Ukrainian Prime Minister Yulia Tymoshenko speaking to the media in Kiev, Ukraine, and on the right, in a photo provided by Ukrainian Pravda, taken Wednesday, April 2
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EPAepa01988687 A municipal worker covers a huge portrait of one of the presidential candidates, Ukrainian Prime Minister Yulia Timoshenko, as the the presidential election campaigncomes to a close in Kiev, Ukraine, 14 January 2010. The first round of pres
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Oppositionspolitikerin Timoschenko auf dem Maidan
Timoschenko: "Kommt sie jetzt, war alles umsonst"

Julia Timoschenko sprach vor Anhängern in Kiew

Teil des Systems

Der Aufstand in der Ukraine, der als Protest für eine Annäherung an die EU begonnen hatte, hat sich gewandelt und ist zur Revolte gegen ein korruptes, zynisches und menschenverachtendes System geworden. Viele Menschen sehen gerade Timoschenko als Teil dieses Systems. Als der Maidan besetzt wurde, gab es entsprechend auch Streitereien: wegen eines riesigen Timoschenko-Plakats, das am Weihnachtsbaum auf dem Platz befestigt worden war. Es wurde entfernt, überhängt, erneut angebracht. Schließlich einigte man sich, es dort zu lassen.

"Es ist gut, dass sie frei ist", sagt eine junge Frau, die der Ansicht ist, dass Timoschenko zu Unrecht verurteilt wurde – "wegen haltloser Anklagepunkte." Nun sollten tatsächlich stichfeste Ermittlungen gegen sie eingeleitet werden.

Timoschenkos Laufbahn ist eine zwischen Business und Politik, mit vermuteten unsauberen Verbindungen zum Gas-Geschäft der 90er-Jahre. Zugleich hat sie im politischen Leben der Ukraine in den Jahren nach der Orangenen Revolution als Premierministerin bewiesen, dass es nicht leicht ist, mit ihr auf einen grünen Zweig zu kommen. Janukowitsch habe seine Minister geschlagen, wenn sie nicht spurten, Timoschenko habe gebrüllt, bis sie taub wurden und entnervt das taten, was ihnen befohlen wurde, hört man von Menschen, die für Timoschenkos letzte Regierung (2007– 2010) gearbeitet haben.

"Sollte Timoschenko in die Regierung kommen, wird es dreckig", sagt ein politischer Insider und Unternehmer. Diese Frau sei mit allen Wassern gewaschen.

Alternative Klitschko

Stellt sich die Frage nach der Alternative nach drei Monaten Protest, der eine schier unglaubliche Welle an Solidarität erzeugt hat. Unter jenen, die gegen Janukowitsch waren. Doch der Aufruhr vermochte eines nicht: die tiefe Kluft zwischen der politischen Kaste und den Menschen auf der Straße zu überwinden.

Vitali Klitschko erscheint da einigen als Hoffnungsträger: weil er neu im Parlament ist, als Sportler an sich unpolitisch und durch seine Unbeholfenheit irgendwie sympathisch erscheint.

Im Kampf um die künftige Macht und den politischen Einfluss boxt "Dr. Eisenfaust" Vitali Klitschko ab sofort auch offiziell mit: Ex-Präsident Viktor Janukowitsch war noch keine drei Tage abgesetzt, als gestern bereits die Registrierung der Kandidaten für die Präsidentenwahlen am 25. Mai begann – und der ehemalige Boxchampion sich offiziell für das Rennen um das höchste und mächtigste Amt im Staat aufstellen ließ. Bis 30. März kann sich nun anmelden, wer nächster Präsident der Ukraine werden will – Julia Timoschenko wird zweifellos dabei sein.

Über die Kandidaten für das Amt des Premiers wurde hingegen gestern weiter gestritten. Eigentlich hätte das Parlament am Dienstag einen neuen Regierungschef bestellen sollen, doch offenbar machten die Aktivisten des Maidan den Beratungen der Parlamentarier einen Strich durch die Rechnung. Sie forderten mehr Mitspracherecht ein und beharrten darauf, dass Mitglieder der früheren Regierung und Präsidentenkanzlei keine Ämter erhalten dürfen.

Wer soll regieren?

Spätestens am Donnerstag aber will das Parlament einen neuen Premier gekürt haben. Als wahrscheinlichste Kandidaten gelten dabei der Timoschenko-Verbündete und ehemalige Wirtschaftsminister Arseni Jazenjuk sowie der oppositionsnahe Oligarch Pjotr Poroschenko.

Nach dem untergetauchten Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch und dessen Gefolge wird indessen weiter gefahndet. Sollte der 63-jährige Ex-Staatschef gefasst werden, will ihn das Parlament in Kiew vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag stellen lassen. Janukowitsch sowie sein Ex-Innenminister und sein ebenfalls geflohener Generalstaatsanwalt seien für den Tod von mehr als hundert Menschen während der Proteste verantwortlich, hieß es in einer Parlaments-Resolution.

Ein Massaker drohte

Und es hätte noch viel schlimmer kommen können: Dokumente, die Journalisten in der leer stehenden Luxusresidenz Janukowitschs fanden, belegen offenbar, dass die Demonstranten auf dem Maidan nur knapp einem Massaker entgangen sind. Demnach wollte der Präsident bis zu 22.000 Polizisten auf den Unabhängigkeitsplatz schicken, um den Protest ohne Rücksicht auf Verluste niederzumachen.

Janukowitsch wird noch immer auf der Krim vermutet. Er soll, so gehen in Kiew die Gerüchte, zusammen mit seiner 39-jährigen Geliebten und deren Tochter untergetaucht sein. Auch von seinen beiden Söhnen, die in den vergangenen vier Jahren zu unerhörtem Reichtum gekommen waren, fehlt jede Spur.

Die wichtigsten Kandidaten

Moskau werde sich nicht in die Entwicklungen in der Ukraine einmischen und hoffe auch auf Abstinenz seiner ausländischen Partner, sagte Russlands Außenminister Sergei Lawrow am Dienstag. Russische Hilfeleistungen für die Ukraine, die kurz vor dem Staatsbankrott steht, knüpfte der Diplomat allerdings trotzdem an konkrete Bedingungen. Dazu müsse man die Zusammensetzung und das Programm der neuen Regierung in Kiew kennen, vor allem Pläne zur wirtschaftlichen Gesundung. Voraussetzung dafür seien sofortiger Gewaltverzicht, Wiederherstellung der Gesetzlichkeit und Aussöhnung.

"Bewusstseinsstörung"

Moskau, so Regierungschef Dmitri Medwedew schon Montag, werde erst mit einer demokratisch legitimierten Regierung in Kiew verhandeln, nicht mit maskierten Trägern von automatischen Schnellfeuergewehren. Das Ergebnis eines bewaffneten Aufstandes als legitim zu bezeichnen, sei eine "Bewusstseinsstörung".

Adressat dieser Kritik war die Europäische Union. Ihr hatte eine kurz zuvor vom russischen Außenamt abgegebene Erklärung zudem stillschweigende Duldung "neonazistischer und antisemitischer Erscheinungen" in der Ukraine vorgeworfen. Rechtsradikale hatten während der Unruhen die von ihnen besetzten Gebäude mit Hakenkreuze beschmiert, neonazistische Parolen skandiert und ukrainische Kollaborateure Hitlers verherrlicht.

Ethnische Russen, die im Osten und Süden der Ukraine über deutliche Bevölkerungsmehrheiten verfügen, waren empört. Noch mehr brachte sie auf, dass die neue Macht in Kiew die Abschaltung russischer TV-Kanäle wegen "Volksverhetzung" verfügte und ein Gesetz aufhob, das Russisch auf regionaler Ebene als offizielle Sprache anerkennt. Die Ukraine, warnte das Außenamt in Moskau, nehme "Kurs auf diktatorische und zuweilen terroristische Methoden, um Andersdenkende zu unterdrücken".

Brüder in der Ukraine

Der russischen Duma liegt daher bereits ein Gesetzesentwurf vor, ethnischen Russen in der Ukraine im Schnellwaschgang die russische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Der Chef des Duma-Ausschusses für die Angelegenheiten der UdSSR-Nachfolgegemeinschaft GUS und die Belange von Landsleuten im Ausland, Leonid Sluzki, mahnte zwar zu Besonnenheit, machte jedoch klar: Russland werde "unsere Brüder in der Ukraine in diesem Zivilisationskampf nicht im Stich lassen".

Die Österreich-Connections der ukrainischen Polit-Elite und Wirtschaftsmagnaten sorgen weiter für Aufregung. Eine der ersten Adressen für wohlsituierte Ukrainer ist offenbar die Wiener Anwaltskanzlei von Leopold Specht, die auch in Kiew eine Filiale unterhält. Specht ist kein unbeschriebenes Blatt. Er gilt als SPÖ-nahe und ist mit Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer freundschaftlich verbunden, der in der Wiener Anwaltskanzlei ein Büro unterhält. Und: Specht sitzt im Aufsichtsrat der ÖBB-Holding und der Austro Control.

Der Anwalt macht kein Hehl daraus, dass er mit dem früheren ukrainischen Ministerpräsidenten Nikolai Asarow und dessen Sohn Alexej Kontakt hat. Dabei ist die Familie Asarow, die zum Teil in Wien-Pötzleinsdorf residiert, wegen angeblicher verdächtiger Vermögenstransaktionen ins Fadenkreuz der ukrainischen Opposition geraten.

"Ich halte Nikolai Asarow für einen redlichen Mann. Ich habe ihn in einer Sache beraten, bei der ich gesehen habe, dass er ausschließlich das Interesse der öffentlichen Hand vertreten hat", sagt Specht zum KURIER. "Ich kann nicht glauben, dass er irgendetwas gemacht hat, was gesetzwidrig wäre." Nachsatz: "Ich vertrete ihn aktuell nicht, aber würde ihn jederzeit vertreten."

Man kennt sich offenbar ganz gut. Specht stellt nämlich klar, dass der Ex-Premier Ende Jänner keinen "Fluchtversuch" nach Wien unternommen habe, sondern bloß seine Familie für zwei Tage besucht habe. Mit Asarow junior verbindet Specht eine GmbH. Alexej Asarow war der Gründungs-Geschäftsführer der "Sustainable Ukraine gemeinnützige Forschung GmbH", deren Alleingesellschafterin eine Subfirma der Kanzlei Specht ist.

Familien-Geschäfte

Ziel dieser Gesellschaft sei es gewesen, "die mögliche Integration der Ukraine in das strukturierte Umfeld der EU mit einigen Forschungsprojekten zu begleiten". Da aus der Annäherung zur EU nichts wurde, platzte auch das Projekt. Ende 2011 schied Asarow aus der Gesellschaft aus und Anwalt Friedrich Bubla übernahm die Geschäftsführung. Detail am Rande: Bubla ist Treuhänder der Familie Asarow – u. a. im Zusammenhang mit ihrem Wiener Domizil.

Und Specht bestätigt auch, dass er die österreichischen Gesellschafter des Magazin-Verlages Publishing Deluxe Holding beraten hat, bei dem Alexejs Frau Lilija Azarova 2012 als Miteigentümerin eingestiegen ist.

Was macht Wien seit Jahren so attraktiv für reiche Ukrainer? Bis zur Verschärfung der EU-Geldwäsche-Bestimmungen im Jahr 2007 nutzten viele Ukrainer ihre Kontakte zu österreichischen Banken, um anonyme Geldtransfers abzuwickeln, so Specht. Heute dreht sich alles um die Steuer-Vorteile: Stichwort Holding-Privileg.

"Wenn sie über eine österreichische Holding eine Beteiligung in der Ukraine strukturieren oder eine Investition über Österreich in einem Drittland machen, werden die Dividenden unter gewissen Bedingungen mit null besteuert", weiß Specht. "Und diese sind leicht zu erfüllen."

Für besonders brisant halten russische Medien die Lage auf der Krim. Die 26.000 große Schwarzmeer-Halbinsel hat einen halbautonomen Status. Ihr Parlament erwägt den Beitritt zu Russland, zu dem die Region bis 1954 gehörte. Dann "schenkte" sie Parteichef Nikita Chruschtschow der Ukraine, in deren Partei-Apparat sein Aufstieg begonnen hatte. Die Krim-Bevölkerung hat sich damit nie abgefunden.

Sogar Minderheiten wie die von Stalin wegen Kollaboration mit der Wehrmacht 1944 kollektiv deportierten Krim-Tataren liegen mit Kiew über Kreuz und sehen in Moskau das geringere Übel.

Dennoch schaffte es die ukrainische Regierung Anfang der 90er-Jahre, ein Referendum über die Unabhängigkeit der Krim zu verhindern. Kompromiss war die autonome Verwaltung ab 1992.

Von den rund zwei Millionen Einwohnern sind rund 25 Prozent Ukrainer und etwas weniger als 60 Prozent Russen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen zudem noch Zehntausende Tataren zurück.

Russland hat auf der Krim seine Schwarzmeerflotte stationiert (siehe Grafik), die Bewohner hoffen auf Verstärkung der Verbände.

Die Entwicklungen in der Ukraine waren auch zentrales Thema einer Tagung des Nationalen Sicherheitsrates am Dienstag in Moskau.

Die Schwarzmeerflotte

Katharina die Große Im Auftrag der Zarin baute Fürst Potemkin im 18. Jahrhundert die russische Schwarzmeerflotte auf und gründete dafür die Stadt Sewastopol.

Ende der UdSSR Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 verbrachte die Flotte mehrere Jahre in einem unklaren Zustand, bevor zwischen Russland und der Ukraine ein Abkommen geschlossen wurde. Die russische Schwarzmeerflotte blieb auf der Krim.

Abkommen bis 2042 2010 vereinbarten Russlands Präsident Putin und Ukraines Ex-Präsident Janukowitsch, dass die Flotte bis 2042 auf der Krim stationiert bleibt. Moskau versprach große Investitionen.

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