Trittin: "Glaub’ nicht, dass ich mich auf die Straße kleben würde"

Der deutsche Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin war überall dabei: von der Gründung der Grünen 1980 über die erste rot-grüne deutsche Bundesregierung 1998 bis zum Rekordergebnis der Grünen bei der Bundestagswahl 2021. Sein Ruf – "mehr Realo als Fundi" – bestätigt sich im Gespräch mit dem KURIER.
KURIER: Herr Abgeordneter, Sie waren selbst in Protestbewegungen aktiv, besetzten Häuser. Würden Sie sich heute auf Straßen kleben, wie die Klimaaktivisten der Letzten Generation?
Jürgen Trittin: Ich glaube nicht. Ich nehme den Aktivisten ihre Verzweiflung durchaus ab, aber diese Form des Protests hat etwas Exterministisches und ist nicht zielführend. Der Kern von Klimaschutz ist heute nicht mehr, Problembewusstsein zu schaffen, sondern Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, wie wir Gesellschaft, Industrie, Energie und Mobilität dekarbonisieren. Das kann man nicht mit einer spektakulären Aktion erreichen.
Sollte man strafrechtlich dagegen vorgehen?
Ziviler Ungehorsam beruht darauf, Regeln zu brechen, und in Kauf zu nehmen, sanktioniert zu werden. Natürlich muss der Staat da einschreiten. Aber der Furor, mit dem jetzt von manchen nach Gesetzesverschärfungen gerufen wird, hat etwas Selbstentlarvendes. Gleichzeitig hat etwa die Erstürmung des Flughafens in Berlin gezeigt, wie leicht so etwas geht. Das darf nicht passieren – es hätten ja auch Terroristen sein können.
Sind die "Klimakleber" ja auch – zumindest laut CSU.
Menschen, die sich selbst festkleben, gleichzusetzen mit Menschen, die andere vorsätzlich ums Leben gebracht haben, ist eine ungeheure Verharmlosung des Terrorismus. Und beleidigt die Angehörigen jener über 30 Menschen, die in Deutschland Opfer der RAF geworden sind.

Unter Schröder (1998 bis 2005) war Trittin Umweltminister. In seinen jungen Jahren war er selbst Aktivist.
Welche Art des Protests wäre zielführender?
Ich glaube nicht, dass es Aufgabe von Parlamentariern – schon gar nicht von einer Regierungsfraktion – ist, sozialen Bewegungen Ratschläge zu erteilen. Natürlich gibt es Spannungen, aber wir brauchen einander. Der Druck von sozialen Bewegungen hat mit dazu geführt, dass die Grünen bei der Wahl ein Rekordergebnis eingefahren haben, dass sie Teil der Regierung sind. Umgekehrt ist das, was sie fordern, nur möglich, wenn es Menschen gibt wie Annalena Baerbock, die die Anliegen auf Regierungsebene durchsetzen.
Schaffen die Grünen in Deutschland dieses Spannungsverhältnis?
Ich finde, ja. Jedenfalls machen mich die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen alles andere als traurig. In Niedersachsen hat Rot-Grün die Große Koalition abgelöst – trotz Zuwächsen der Faschisten rechts.
Warum sind die Grünen derzeit so erfolgreich? Obwohl – oder weil – man Ideologie gegen Pragmatismus getauscht hat?
Man muss in einer Regierung pragmatisch agieren, das ist normal und geht nicht anders. Wir haben das zwischen 1998 und 2005 so praktiziert, heute machen es Annalena, Robert und alle anderen genauso.
Wie viel Pragmatismus kann man sich leisten? Wie ist etwa "feministische Außenpolitik" mit Gas aus Katar vereinbar?
Feministische Außenpolitik prägt unser Handeln. Sie ist der Grund, warum wir etwa treibende Macht in Europa sind, die Sanktionen gegenüber dem Iran zu verschärfen. Was die Gassituation betrifft, ist es so, dass plötzlich ein Fünftel der weltweiten Gasmenge nicht mehr auf dem Markt ist. Dieses ist nicht von heute auf morgen durch Wasserstoff oder anderes zu ersetzen. Da muss man pragmatisch handeln. Man muss den Ausbau erneuerbarer Energien fördern und parallel dazu "Autokraten-Diversifizierung" betreiben. Dazu gehört die unbequeme Wahrheit, dass wir zurzeit Fracking-Gas aus den USA beziehen, Verträge mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Aserbaidschan und Katar abschließen. Wenn wir nicht wollen, dass hier die Lichter ausgehen, ist das gerade notwendig.

Trittin mit Wirtschaftsminister Robert Habeck und Staatssekretärin für Medien und Kultur, Claudia Roth (l.)
Die Regierung steckt auch viel Geld in die Bundeswehr. Wie sehen Sie das – Sie haben den Dienst einst verweigert und dagegen geklagt?
Putin will die europäische Friedensordnung neu gestalten – mit Gewalt. Mehr Geld für die Bundeswehr ist nicht schön, aber notwendig. Wir haben einen der höchsten Rüstungsetats in Europa, trotzdem fährt unsere Bundeswehr auf Felgen. Nur 100 unserer 290 Panzer sind einsatzfähig. Wie sollen wir so unsere NATO-Verpflichtungen erfüllen?
Gleichzeitig pochen Sie auf diplomatische Verhandlungen im Ukraine-Krieg?
Natürlich. Doch Russland setzt aktuell weiter auf eine militärische Lösung. Trotzdem wird dieser Krieg am Ende mit einer diplomatischen Vereinbarung enden. Aber das wird erst der Fall sein, wenn der Aggressor eingesehen hat, dass eine weitere Fortsetzung sinnlos ist.
Im Moment zeigt sich aber auch die Ukraine wenig bereit für Verhandlungen.
Es liegt nicht an uns, den Ukrainern zu sagen, ihr habt jetzt lange genug durchgehalten, hört auf damit. Das halte ich für verwegen. Es wird eine politische Lösung geben, aber nur mit der Zustimmung der Bevölkerung in der Ukraine.
Wann, denken Sie, wird das passieren?
Wir werden wohl einen Winter erleben, wo sich die Konfliktparteien vorbereiten, um im Frühjahr neue Geländegewinne zu erzielen. Bevor dieser Versuch nicht unternommen wurde, sind der Erschöpfungszustand und die Bereitwilligkeit für eine politische Lösung nicht erreicht.
Jürgen Trittin (68) sitzt seit 24 Jahren im deutschen Bundestag. Er ist Außenpolitiksprecher der Grünen, unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998 bis 2005) war der Sozialwirt Umweltbundesministers. In seinen jungen Jahren war Trittin in Protestbewegungen aktiv, besetzte Häuser und engagierte sich im Kommunistischen Bund.
Klimaschutz, der Ausbau grüner Energien – eigentlich teilen die Grünen und Protestbewegungen wie Fridays for Future oder Letzte Generation dieselben Interessen. Doch die zwischenzeitliche Förderung fossiler Energieträger, um von russischem Öl und Gas wegzukommen, verärgert die grünen Aktivisten. Diese wiederum stoßen mit ihrer Form des Protests – "Klimakleber", die sich auf die Straße kleben, oder Aktivisten, die Gemälde mit Farbe bewerfen – auf laute Kritik – auch aus der eigenen Partei.
200 Milliarden Euro steckt die deutsche Ampel-Regierung bis 2026 in den Energie- und Klimafonds. Eine beispielhafte Investition, sagt Trittin.
Wie lautet Ihre Bilanz zu einem Jahr Ampel-Regierung? Welche Probleme wird es weiterhin geben – zum Beispiel mit der FDP?
Die Bilanz der Grünen kann sich sehen lassen. Wir haben viel umgesetzt, ökologische wie soziale Projekte: das Bürgergeld, den Ausbau erneuerbarer Energien, das 49-Euro-Ticket, das Selbstbestimmungsgesetz.
Das Problem mit der FDP ist ihr Rollenverständnis: Man kann nicht in der Regierung und gleichzeitig Opposition sein. Das nehmen ihnen die Wähler krumm. Ich würde anstelle der FDP darauf achten, gemeinsame Ziele zu finden und die Erfolge in der Koalition zu betonen – etwa die Kippung eines Tempolimits.
Deutschland wird also kein Tempolimit bekommen?
Das Tempolimit wird über kurz oder lang kommen, allerdings nicht in dieser Legislaturperiode. Das wird die FDP verhindern. Was ihr auf Twitter ja den unschönen Titel "FDP – Fahr doch Porsche" eingebracht hat.
Wird der Höhenflug der Grünen 2023 anhalten?
2023 wird in Hessen – wo wir stärkste Kraft werden wollen – und in Bayern gewählt. Dort wollen wir die CSU endlich in eine konstruktive Koalition zwingen. Bayern ist nicht gleich die CSU.
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