Großbritannien: "Hysterischer, nationalistischer Wahn" hat Politik erfasst

Zwischen der EU und Großbritannien zeichnet sich eine schwierige Scheidung ab.
Der Journalist Ian Dunt schildert in seinem Buch das schlimmstmögliche Szenario eines Brexit – das sich seiner Meinung nach nun abzeichnet.

Ein LKW-Stau von London bis Dover. Verfaulende Lebensmittel auf der Autobahn, an den Grenzen gestoppte Importe aus aller Welt, ein bürokratischer Papierregen aus Einfuhr- und Ausfuhrpapieren und leere Geschäftsregale in London bei zugleich steigenden Preisen.

Derart dystopisch beginnt das letzten November erschienene Buch des britischen Journalisten Ian Dunt: Brexit – What the Hell Happens Now? Das Porträt einer nationalen Katastrophe als reißerische Heranführung an ein wenig verstandenes, komplexes Thema: Den harten Brexit. Und doch näher dran an einer realistischen Prognose als der Autor des Buches es beim Schreiben je zu denken wagte.

KURIER: In Ihrem Buch "Brexit – What the Hell Happens Now?" liefern Sie eine alarmierende Prognose im Fall eines harten Brexit ohne Deal: Sie beschreiben LKW-Staus von London bis nach Dover, einen plötzlichen Zusammenbruch der britischen Wirtschaft. Wollten Sie nur schockieren?

Ian Dunt: Das erste Kapitel des Buches beschreibt das schlimmste, mögliche Szenario. Allerdings wird dieses seither Tag um Tag wahrscheinlicher. Als ich es schrieb, dachte ich, irgendwer würde das schon aufhalten, seien es die Amerikaner oder Beamten, die der Regierung sagen: So gehts einfach nicht. Aber im Moment sieht es tatsächlich so aus, als zöge die Premierministerin ernsthaft in Betracht, diesen Pfad zu beschreiten.

Ihr Buch wurde von einer spontanen Crowdfunding-Kampagne besorgter Leser an alle Parlamentarier verschickt. Haben Sie irgendwelche konstruktiven Reaktionen darauf erhalten?

Von den meisten Abgeordneten kamen bloß vorgefertigte Standardantworten zurück. Je später die Antwort, desto reflektierter ist sie, es gibt also schon Leute, die das lesen. Ich fürchte aber, dass die meisten Parlamentarier sich in Wahrheit noch gar nicht damit befassen, was passieren wird. Was sie wirklich interessiert, ist das, was sie für die Meinung auf der Straße halten, diese Massenhysterie im Sinne eines Konstrukts der Stimme des Volkes. Solange deren Befriedigung die einzige Motivation der Parlamentarier ist, orte ich wenig ernsthafte Beschäftigung mit der Mechanik dessen, was uns ins Haus steht.

Theresa May hat bekanntlich gesagt: Kein Deal mit Europa sei besser als ein schlechter. Ist das bloß Kanonendonner vor Beginn der Verhandlungen?

Es wäre furchterregend, wenn sie das wirklich glaubt. Aber Brexit-Minister David Davis erklärt regelmäßig in Ausschüssen, es wäre für die EU viel schlimmer als für uns, wenn wir uns auf eine Mitgliedschaft bei der Welthandelsorganisation zurückziehen. Ich kann nicht sehen, wie ein rationaler Mensch so etwas glauben kann. Aber es ist möglich, dass die Regierung ihre Ohren derart dicht verschließt, dass sie diesen Akt der Selbstverstümmelung erwägt. Wir können nur beten, dass es ein Bluff ist. Wir müssen uns im Klaren sein, was ein Platzen der Verhandlungen bedeuten würde. Das daraus resultierende regulative und rechtliche Chaos in Großbritannien würde im globalen Handel wie ein Bombe detonieren. Es gibt keinen Notausgang aus dem Artikel 50. Würde man ihn suchen, wäre man sofort in einen Handelskrieg verwickelt, mit der EU und allen Ländern, die in den Binnenmarkt exportieren. Niemand, der sich mehr um das ökonomische Wohl Britanniens als um seine Ideologie schert, könnte das je als vernünftige Vorgangsweise darstellen. Und doch tun das diese Leute regelmäßig. Die einzige Erklärung dafür ist, dass ein hysterischer, nationalistischer Wahn große Teile der politischen Klasse Großbritanniens erfasst hat, so wie ich es noch nie erlebt habe.

Könnte das noch schlimmer werden, wenn sich Großbritannien im Laufe der Verhandlungen als Opfer einer kontinentalen Verschwörung empfindet?

Absolut. Die Kritiker des Brexit müssen dringend eine Alternative zu der Erzählweise finden, dass die Deutschen uns abstrafen wollen. Das ist der größte Unsinn, aber er kommt beharrlich aus den Medien, von den Konservativen und von UKIP, und er setzt sich fest. Wir sollten uns fragen, welche andere Geschichte wir erzählen können, wenn die Dinge in anderthalb Jahren wirklich zu beißen beginnen.

Entgegen allem Optimismus der britischen Regierung scheint es unmöglich, in den unter Artikel 50 festgeschriebenen zwei Verhandlungsjahren eine befriedigende Lösung zu finden. Wie sähe ein realistischer Idealfall aus?

Das Beste, was May erreichen kann, ist die Scheidung abzuschließen. Da geht es erst einmal um das Budget. Dann steht die Frage in Großbritannien lebender EU-Bürger und umgekehrt an. Danach wird man ein Übergangsabkommen brauchen, das über die zwei Jahre Verhandlungszeitraum hinausgeht. Im besten Fall würde May diesen Deal im Unterhaus und in Brüssel durchbringen, danach Wahlen abhalten, und von 2020 bis 2025 gäbe es einen realistischen Zeitrahmen, das Handelsabkommen mit der EU auszuknobeln. Aber das ist sehr schwer zu erreichen. Sowohl in den Budgetverhandlungen als auch beim Übergangsabkommen könnten die Gespräche völlig scheitern.

Sehen Sie für diesen Fall eine Chance, dass es sich die Briten am Ende vielleicht doch noch anders überlegen könnten mit dem Ausstieg aus der EU?

Dem politischen Konsens zufolge wird ein zweites Referendum nie passieren, aber ich bin mir da nicht so sicher. Im Moment führt Großbritannien eine hermetische Debatte. Wir sprechen nur darüber, was wir wollen: Ein Ende der Bewegungsfreiheit, aber tariffreien Handel. Bald wird man sich damit auseinandersetzen müssen, was andere wollen, insbesondere nach den deutschen Wahlen im Herbst. Wenn dann das Pfund weiter fällt, die Preise in den Supermärkten steigen und manche der Warnungen vor einer Zukunft ohne Handelsabkommen realer werden, könnte die öffentliche Stimmung kippen. Und dann ist ein zweites Referendum nicht unmöglich.

Vorläufer Montanunion Sechs Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gründen Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande 1951 den Vorläufer der heutigen EU, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion).

EWG und Euratom Dieselben sechs Staaten unterzeichnen 1957 die Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM), die 1958 in Kraft treten. 1973 wird die EWG erstmals erweitert, mehrere Erweiterungsrunden folgen. Seit 1979 wird das
Europäische Parlament direkt von den Bürgern gewählt.

Europa wächst zusammen 1993 begründet der Maastricht-Vertrag die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, die Bezeichnung „Europäische Union“ (EU) wird etabliert. 1995 tritt Österreich der EU bei, ab dem selben Jahr beseitigt das Schengener Abkommen die Grenzkontrollen.

2002 wird der Euro eingeführt. Heute führen ihn 19 der insgesamt 28 EU-Staaten mit rund 510 Millionen Einwohnern als Landeswährung.

2009 tritt der Vertrag von Lissabon in Kraft. Durch ihn erhält die EU moderne Institutionen und effizientere Arbeitsverfahren.

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