Jimmy Carter ist tot: Der Zauderer mit Weitsicht

Jimmy Carter ist tot: Der Zauderer mit Weitsicht
Mit 100 Jahren ist der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter gestorben. Im Amt war er wenig erfolgreich. Sein Ansehen war zuletzt über die Parteigrenzen hinweg herausragend

Der frühere US-Präsident Jimmy Carter ist im Alter von 100 Jahren gestorben. Das berichtete unter anderem die Atlanta Journal-Constitution am Sonntag. Der Friedensnobelpreisträger und 39. Präsident der Vereinigten Staaten feierte am 1. Oktober seinen 100. Geburtstag. 

Carter war der erste ehemalige US-Präsident, der dieses Alter erreicht hatte. Seine Amtszeit (1977-1981) liegt fast ein halbes Jahrhundert zurück.

Der Demokrat galt als glückloser Präsident. Als er abgewählt wurde, haftete ihm der Ruf eines weltfremden Idealisten an, dem als Staatsmann die politische Durchsetzungskraft fehlte. Später aber wurde er immer wieder als "bester Ex-Präsident" des Landes gewürdigt.

Jimmy Carter: Ein Nachruf

Es sind rare Momente in Amerika, wenn ein Politiker, ganz gleich, ob Demokrat oder Republikaner, inflationär als „gute Seele“, „sehr feiner Mensch“, „Ausbund an Mitmenschlichkeit“ und „Vorbild für uns alle“ beschrieben wird.

Für solche Vokabeln ist im vergifteten nationalen Selbstgespräch, in dem Andersdenkenden reflexartig böseste Absichten unterstellt werden, normalerweise kein Platz. Bei Jimmy Carter macht das Land gerade eine Ausnahme. Als 2023 bekannt wurde, dass sich der 39. Präsident nach vielen Krankheiten, Operationen und Spital-Aufenthalten aus den Händen der Groß-Medizin, die den Krebs nicht besiegen konnte, in seinem bescheidenen Zuhause in palliative Hospiz-Hilfe begeben hat, rollte eine Welle der Anteilnahme ins idyllische Plains im Bundesstaat Georgia, wo Carter am 1. Oktober 1924 geboren wurde.

Mit ehrlicher Anteilnahme für Carter und seine seit 77 Jahren mit ihm verheiratet gewesene Gattin Rosalynn (96) zollte das Land parteiübergreifend Respekt einem Mann, der in seinem Leben oft unterschätzt wurde. Jetzt ist Jimmy Carter im Alter von 100 Jahren im Kreise seiner Familie gestorben.

Jimmy Carter ist tot: Der Zauderer mit Weitsicht

Wie kam Amerika überhaupt zu Jimmy Carter? 

Nach dem Albtraum von Vietnam und Richard Nixons Machtwahn im Watergate-Skandal sucht die traumatisierte Nation nach Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Bodenständigkeit an der Spitze.

Und nach Integrität. Kaum jemand verkörperte diese Qualitäten 1977 authentischer als der abseits des Washingtoner Klüngels groß gewordene Provinzpolitiker, der es in Georgia mit Charme und Fleiß zum Gouverneur brachte. Carter, Unterseebootfahrer und Nuklear-Ingenieur mit Abschluss an der renommierten Militär-Akademie in Annapolis/Maryland, bezwang den Republikaner Gerald Ford.

Aber schon kurz danach ging es mit Jimmy Carters Präsidentschaft bergab. 

Zu zaudernd, zu pedantisch, zu ehrpusselig und am Ende auch zu glücklos agierte der in eigenen Reihen oft als Hinterwäldler belächelte Demokrat, der seine erste Fernseh-Ansprache an die Nation in einer Strickjacke hielt.

Dass er 1979 auf dem Höhepunkt der Wirtschafts-Malaise mit hohen Öl-Preisen und galoppierender Inflation etwas sehr Unamerikanisches tat und seinem auf Überfluss trainierten Volk Verzicht predigte, ist unvergessen: „In einer Nation, die stolz war auf harte Arbeit, starke Familien, eng zusammenhaltende Gemeinschaften und den Glauben an Gott“, sagte Carter, „neigen nun zu viele von uns dazu, Genusssucht und Konsum anzubeten.“

Mehr Sätze braucht der Mann mit dem ewigen Zahnpasta-Lächeln nicht zum politischen Selbstmord. Aber er tat es aus tiefster Überzeugung.

„Sein wichtigster Charakterzug war, dass er selbst hartnäckige Probleme unabhängig von der Frage anging, welchen politischen Preis er dafür zahlen musste“, sagte später sein enger Berater Stuart Eizenstadt.

Zu den innenpolitischen Pleiten kamen außenpolitische Nadelstiche.

Sie zementierten das Bild des Versagers. Die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein. Und der Iran nahm die US-Botschaft in Teheran in Geiselhaft. Eine Befreiungsaktion misslang kläglich. Erst unter Nachfolger Ronald Reagan wurde die Krise gelöst. Nach 444 Tagen der Demütigung. Entschieden zu lange, um Carters Pluspunkte jedenfalls damals ausreichend zu würdigen.

Er war es, der die Beziehungen zu China normalisierte und nie amerikanische Soldaten in einen Krieg schickte, mit der Sowjetunion aber einen großen Abrüstungsvertrag unterzeichnete. Er war es, der 1978 auf dem US-Präsidentenlandsitz Camp David den historischen Friedensschluss zwischen Israel (Menachem Begin) und Ägypten (Anwar El Sadat) im wahrsten Sinne des Wortes herbei betete.

Jimmy Carter ist tot: Der Zauderer mit Weitsicht

Abrüstungsvertrag mit Leonid Breschnew

2002 erhielt Jimmy Carter den Friedensnobelpreis

Auch darum wurde der tief gläubige Sohn eines Kaufmanns und einer Krankenschwester, der später den Einsatz für Menschenrechte und die Dritte Welt zu seinem Lebensinhalt gemacht hat und 2002 dafür den Friedensnobelpreis erhielt, in den vergangenen Jahren mehr denn je wertgeschätzt: Als Beispiel für Dezenz, Standhaftigkeit und Moral. In spätestens seit Donald Trump unmoralisch und verkommen gewordenen Zeiten.

Seine zweite Karriere startete er mit Werkzeugkasten und Hammer

Als James Earl Carter 1981 nach der Niederlage gegen Reagan in Washington die Koffer packte, überreichte ihm sein Stab als Abschiedsgeschenk einen Werkzeugkasten mit Hammer, Hobel und Holzleim. Carter tischlerte damit auf der heimischen Erdnuss-Farm ein neues Ehebett. Und so manche Wiege für die Enkelkinder. Später stellte er seine handwerklichen Fähigkeiten und seinen Gemeinsinn in den Dienst von „Habitat for Humanity“. Die Hilfs-Organisation zimmert weltweit sozial Schwachen ein Dach über den Kopf. Seit 1984 nahm sich Carter dafür noch bis vor Kurzem mit seiner Frau jedes Jahr eine Woche Zeit.

Unvergessen sind Fotos, die den sichtlich malträtierten Carter kurz nach einem Sturz in der heimischen Wohnung mit Schutzbrille und Helm auf einer Baustelle zeigten. Pflichterfüllung ging ihm über alles. Dass Jimmy Carter zuletzt nicht nur bei den Demokraten eine Renaissance erlebte und etwa vor der Wahl 2020 von Präsidentschaftskandidaten um Rat gebeten wurden, liegt an den Zeitläuften.

Carter war ein Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit

Soziale Ungleichheit, die Rechte von gesellschaftlichen Minderheiten, der Ressourcen-Raubbau an Mutter Erde, Demokratie und Wahlrecht, Friedens-Diplomatie statt Raketen-Rhetorik: All das, was die neuen Progressiven links der Mitte forcieren und von dem sich der US-Präsident Joe Biden bei seinem „Green New Deal“ einiges abgeschaut hat, das waren schon vor 40 Jahren seine Themen.

Jimmy Carter war es, der seinen Landsleuten den unstillbaren Durst auf das Öl der Scheichs abgewöhnen wollte und Solarzellen aufs Dach des Weißen Hauses montieren ließ. Carter war es, der mit seinem „Carter Zentrum“ in Atlanta eine Art Privat-Außenministerium eröffnete und sich neben der Konfliktvermittlung in Haiti, Bosnien, Nordkorea und Kuba auch um die Ausrottung von Infektionskrankheiten kümmerte, wie sie der Guineawurm auslöst.

Viele Amerikaner können sich immer noch hinter einem alten Satz des Folksängers Tom Paxton versammeln: „Jimmy Carter war kein großer Präsident, aber er ist ein großartiger Ex-Präsident.“ Ein Grund unter vielen: Carter strebte nie nach Reichtum. Er zog nach der Zeit im Weißen Haus zurück in sein kleines Rancher-Haus in Plains, das mit knapp 170.000 Dollar weniger wert war als die gepanzerten Fahrzeuge des Secret Service, der Carter seit über 40 Jahren rund um die Uhr beschützte.

Carter lebte zuletzt in der Kleinstadt Plains im Bundesstaat Georgia, wo er am 1. Oktober 1924 zur Welt kam.

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