Jimmy Carter 95: Der gütige Zauderer

Der älteste lebende US-Präsident wird rund 40 Jahre nach seiner Abwahl verehrt wie noch nie.

Als James Earl Carter 1981 nach der Niederlage gegen Ronald Reagan im Weißen Haus die Koffer packte, überreichte ihm sein Stab als Abschiedsgeschenk einen Werkzeugkasten mit Hammer, Hobel und Holzleim. Carter tischlerte damit auf der heimischen Erdnussfarm im 650 Einwohner zählenden Südstaaten-Dorf Plains ein neues Ehebett. Und so manch’ Wiege für die Enkelkinder.

Später stellte Carter, der früh Jimmy gerufen wurde, seine handwerklichen Fähigkeiten und seinen Gemeinsinn in den Dienst von „Habitat for Humanity“. Die Hilfsorganisation zimmert weltweit sozial Schwachen ein Dach über den Kopf. Seit 1984 nimmt Carter sich dafür einmal im Jahr eine Woche Zeit.

Nächste Woche ist er in „Park Preserve“ auf Montage, ein sozialer Brennpunkt in Nashville im US-Bundesstaat Tennessee. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen, darunter die Country-Stars Garth Brooks und Trisha Yearwood, setzen Carter und seine seit 73 Jahren angetraute Frau Rosalynn Schutzbrille und Helm auf und legen beim Häuserbau mit Hand an. Solange die Kraft reicht.

Krebs und Sturz

Jimmy Carter überlebte vor fünf Jahren eine schwere Krebserkrankung. Im vergangenen Frühjahr folgte nach einem Sturz zu Hause, wo er seine Siebensachen für die Truthahnjagd zusammensuchte, eine Hüftoperation. Der Mann mit dem ansteckenden Lachen, Amerikas 39. Präsident, feiert heute seinen 95. Geburtstag.

Ein großes Fest, gar einen Empfang in Washington, wird es nicht geben. Carter, der gottgefällige Baptist, der regelmäßig in der Maranatha-Kirche von Plains sonntags Bibelstunden gibt, hasst den großen Bahnhof, wenn es um die eigene Person geht.

Auch darum wird der Sohn eines Kaufmanns und einer Krankenschwester, der den Einsatz für Menschenrechte und die Dritte Welt zu seinem Lebensinhalt gemacht hat und 2002 dafür den Friedensnobelpreis erhielt, heute mehr denn je wertgeschätzt: als Beispiel für Zurückhaltung, Standhaftigkeit und Moral. In unmoralischen Zeiten.

Gegenstück zu Trump

Seit Donald Trump regiert, den er für ein „Desaster“ und unrechtmäßig durch russische Tricksereien an die Macht gekommen hält (und trotzdem für ihn betet), ist Carters Autorität noch einmal gewachsen.

Während sich der Amtsinhaber ermächtigt fühlt, Frauen nach Gusto zwischen die Beine zu greifen, erschöpfen sich Carters außereheliche Eskapaden in dem nach der Goldenen Hochzeit abgelegten Geständnis, früher „lüsterne Gedanken“ an fremde Frauen verschwendet zu haben. Carter hat mehr als 30 Bücher geschrieben. Trump liest keine Bücher.

Jimmy Carter 95: Der gütige Zauderer

Mit Menachem Begin ein Toast auf den Frieden Israel-Ägypten

Wie kam Amerika überhaupt zu Jimmy Carter? Nach dem Albtraum von Vietnam und Nixons Machtwahn im Watergate-Skandal suchte die traumatisierte Nation nach Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Bodenständigkeit an der Spitze. Und nach Integrität.

Niemand verkörperte diese Eigenschaften 1976 damals authentischer als der abseits des Washingtoner Klüngels groß gewordene Provinzpolitiker, der es in Georgia zum Gouverneur brachte. Carter, Unterseebootfahrer und Nuklear-Ingenieur mit Abschluss an der renommierten Militär-Akademie in Annapolis, bezwang den Republikaner Gerald Ford.

Glücklos und belächelt

Schon kurz danach ging es mit seiner Präsidentschaft bergab. Zu zaudernd, zu pedantisch und am Ende zu glücklos agierte der in eigenen Reihen belächelte Demokrat, der seine erste Fernseh-Ansprache an die Nation in einer Strickjacke hielt.

Dass er 1979 auf dem Höhepunkt der Wirtschaftsmalaise mit hohen Ölpreisen und galoppierender Inflation etwas sehr Unamerikanisches tat und seinem Volk die Leviten las, ist unvergessen: „In einer Nation, die stolz war auf harte Arbeit, starke Familien, eng zusammenhaltende Gemeinschaften und den Glauben an Gott, neigen nun zu viele von uns dazu, Genusssucht und Konsum anzubeten.“ Politischer Selbstmord. Aus Überzeugung.

Carters enger Berater Stuart Eizenstadt: „Sein wichtigster Charakterzug war, dass er selbst hartnäckige Probleme unabhängig von der Frage anging, welchen politischen Preis er dafür zahlen musste.“

Zu den innenpolitischen Pleiten kamen außenpolitische Nadelstiche, die das Bild des Versagers zementierten. Die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein. Und der Iran nahm die US-Botschaft in Teheran in Geiselhaft. Eine Befreiungsaktion misslang kläglich. Erst unter Reagan wurde die Krise gelöst. Nach 444 Tagen demütigenden Tagen.

Zu lange, um Carters Pluspunkte jedenfalls damals ausreichend zu würdigen: Er war es, der die Beziehungen zu China normalisierte und nie amerikanische Soldaten in einen Krieg schickte, mit der Sowjetunion aber einen großen Abrüstungsvertrag unterzeichnete.

Friede Israel–Ägypten

Er war es, der den Panamakanal aus US-Kontrolle entließ und 1978 auf dem Präsidentenlandsitz Camp David den historischen Friedensschluss zwischen Israel (Menachem Begin) und Ägypten (Anwar El Sadat) im Sinne des Wortes herbeibetete.

Dass Jimmy Carter heute innerhalb der Demokraten, die ihn als Hinterwäldler und penetranten Streithansel betrachteten, eine Renaissance erlebt und bei den Kandidaten für 2020 oft gefragter Ratgeber ist, ist kein Zufall.

Soziale Ungleichheit, die Rechte von gesellschaftlichen Minderheiten, der Ressourcen-Raubbau an Mutter Erde, Demokratie und Wahlrecht, Friedensdiplomatie statt Raketenrhetorik: All das, was die neuen Progressiven um die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez heute als „Grünen neuen Deal“ preisen, das waren schon vor 40 Jahren seine Themen. Carter war es, der seinen Landsleuten den Durst auf das Öl der Scheichs abgewöhnen wollte und Solarzellen auf das Weiße Hauses montieren ließ.

Carter war es, der mit seinem „Carter Zentrum“ in Atlanta eine Art Privat-Außenministerium eröffnete und sich neben der Konfliktvermittlung in Haiti, Bosnien, Nordkorea und Kuba auch um die Ausrottung gefährlicher Infektionskrankheiten kümmerte.

Viele Amerikaner können sich immer noch hinter einem alten Satz des Folksängers Tom Paxton versammeln: „Jimmy Carter war kein großer Präsident, aber er ist ein großartiger Ex-Präsident.“

Am 1. Oktober 1924 in Plains, Georgia, geboren. Dort  lebt er heute noch mit seiner Frau Rosalyn (92). Nach Dienst und Ausbildung in der Marine übernahm er 1953 die familieneigenen Erdnuss- und Baumwollplantagen. Der strenggläubige Baptist war von 1971 bis 1975 Gouverneur in  Georgia und 1977–1981 der 39. Präsident der USA. Der Demokrat verhandelte maßgeblich Camp David I (Frieden Israel–Ägypten) und Salt II (Atomwaffenvertrag mit der UdSSR) und erhielt 2002 den Friedensnobelpreis. 

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