Juncker: "Brexit wird die EU nicht stoppen"
Der Brexit werde, so "bedauerlich und schmerzhaft er auch sein mag, die EU auf ihrem Marsch in die Zukunft nicht stoppen können", betonte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Mittwoch im Europaparlament bei der Präsentation des Weißbuchs zur "Zukunft der EU". Ziel müsse es sein, gemeinsam als EU der 27 voranzumarschieren.
Generell will Juncker, dass sich die EU stärker darauf konzentriere, "handfeste Ergebnisse" zu liefern, anstatt Absichten anzukündigen. Die Verhältnisse insgesamt und die Zusammenhänge würden "nicht jährlich, wechseln, nicht monatlich, nicht wöchentlich. Sie wechseln täglich. So sehr und so schnell, dass wir manchmal außer Atem kommen. Vor uns sind große Herausforderungen, hohe Hürden", aber diese seien "mitnichten unüberwindbar", so Juncker. "Entweder wir werden von solchen Entwicklungen überrollt, niedergewalzt, oder wir lassen uns auf sie ein, gestalten sie und ergreifen neue Chancen, die sie mit sich bringen".
Europa muss "hellwach sein"
Europa dürfe "nicht müde werden, Europa muss hellwach sein und muss die Chancen aktiv und manchmal proaktiv nutzen". Wenn "wir anderen Mut machen wollen, brauchen wir selbst welchen".
Fünf Optionen
Zu den von ihm im Weißbuch angesprochenen fünf Optionen sagte Juncker, er werde "heute absolut nicht meine Präferenz mitteilen. Das ist keine isolierte Entscheidung". Allerdings wandte sich Juncker entschieden dagegen, die EU auf eine reine Binnenmarktverwaltung zurückzudrängen. Dies ist de facto eine Absage an Variante zwei. Bei der EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten - Option drei - sagte Juncker, die Vorstellung, dass einige Staaten in einigen Bereichen voranschreiten und Bahn brechen, darf nicht ohne weiteres ad acta gelegt werden". Dies sei eine Art Avantgarde, die nicht auf Exklusion, sondern auf spätere Inklusion abziele.
Denkbar sei auch, dass die EU-27 gemeinsam beschließen, in etwas kleinerer Anzahl vereint mehr zu tun. Juncker ließ erkennen, dass er Option fünf eines viel stärker geeinten Handelns für wünschenswert hält. "Da könnte man Vollgas geben und die Leadership der EU sicherstellen".
Europa muss positive Weltmacht bleiben
Juncker erklärte des Weiteren, dass "Europa eine positive Weltmacht bleiben muss". Die Europäische Union habe "einen lagen Weg hinter und vor sich". Unser Kontinent werde von anderen bewundert, "während wir einander oft hassen".
Viele Bürger meinten, die Dinge müssten anders angegangen werden. "Aber man sollte auch nicht alles ändern wollen". Juncker unterstrich die Bedeutung der Demokratie, der Würde und der Gleichheit der Menschen und die freie Presse. "Schauen Sie sich an, was in der Türkei geschieht, wo ohne Grund ein deutscher Journalist verhaftet wurde, weil er das gesagt hat, was gesagt werden musste".
Wesentlich seien die Werte der EU. Diese könnten aber nicht darin bestehen, andere zurückzuweisen. "Wir können nicht die Stimmen derjenigen akzeptieren, die wollen, dass solche Werte totgebrüllt werden durch nationalistische Slogans; die aus Patriotismus eine Waffe gegen andere machen wollen".
EU-Skepsis
Juncker verwies auf die Skepsis vieler Menschen, dass die EU zu viel regle. "Die Kommission hat bereits Fortschritte erzielt, wir wollen nicht jeden Aspekt regeln und uns in alles einmischen. Die Menschen wollen nicht Vorschriften über Toilettenspülungen und höhere Kinderschaukeln haben." Wesentlich sei, sich auf die großen Dinge zu konzentrieren.
Das Konzept des Spitzenkandidaten bei den EU-Parlamentswahlen verteidigte Juncker. Man könne nicht hinter die Ergebnisse von 2014 zurückfallen. Er selbst werde bei der Wahl 2019 nicht wieder kandidieren. Aber: "Ich bin weder müde noch gehen mir die Ideen aus. Im Gegenteil, das werden sie noch sehen."
Parlamentsdebatte
In der Parlamentsdebatte erklärte ein EVP-Vertreter, es müsse damit aufgehört werden, Europa für etwas zu beschuldigen, was Europa nicht tun könne, weil es nicht über die entsprechenden Instrumente verfüge. Die Sozialdemokraten zeigten sich enttäuscht vom Weißbuch. Es sei nur die Option fünf eines stärkeren gemeinsamen Handelns möglich. Die europaskeptischen Konservativen konzedierten, dass die EU für Frieden gesorgt habe, "aber inzwischen wird nur noch der Friede beschworen". Die Hoffnungen, dass die EU für Wohlstand und Wachstum sorgen könne, seien fehlgeschlagen.
Die Liberalen bedauerten, dass die EU immer noch eine frei zusammengewürfelte Union sei. Es fehle weiterhin der digitale Binnenmarkt. Notwendig sei, eine positive optimistische Offensive parallel zum Brexit anzugehen. Von den Linken wurde bemängelt, dass es zu wenig sei, nur eine ästhetische Korrektur zu machen. Solange die EU die Bestrebungen der Menschen nicht ernst nehme, werde sie weiterhin abgelehnt. Die Grünen sahen das Problem in der Entwicklung, dass das Recht auf Profit als alleroberstes Gut ausgewiesen wurde. Dies habe viele Menschen zu Euroskeptikern gemacht. Kritik gab es daran, dass Juncker die Idee eines Kurswechsels für absolut unvorstellbar halte.
"Während Europa brennt, kritzelt die EU Bücher", titelte das Politikportal Politico kürzlich. Die Europäische Union versuche, die offensichtlichen Risse "buchstäblich mit Papier zuzukleistern" hieß es weiters. Gemeint ist das Weißbuch zur "Zukunft der EU", das anlässlich des 60-Jahr-Jubiläums der Römer Gründungsverträge veröffentlicht wird.
Das Weißbuch der EU-Kommission zur Zukunft der Europäischen Union nach dem Austritt Großbritanniens enthält fünf Optionen. Die "fünf Szenarien für Europa bis 2025" sind:
- 1. Weitermachen wie bisher
- 2. Nur ein Binnenmarkt
- 3. Jene, die mehr wollen, sollen es tun
- 4. Weniger, aber effizienter handeln
- 5. Viel mehr gemeinsam tun
Keine Prioritäten
Das 30-seitige Dokument über "Reflexionen und Szenarien für die EU27 bis 2025" lässt keine Prioritäten für eine der fünf angeführten Varianten erkennen. Juncker schreibt in seinem Vorwort, dass das Weißbuch "dem Europäischen Rat helfen soll, erste Schlüsse bis Jahresende zu ziehen und dann über den Kurs zu entscheiden, der zeitgerecht bis zu den Wahlen zum EU-Parlament im Juni 2018" einzuschlagen sei.
Juncker verwies auf die 60-Jahr-Feier der Römischen Verträge am 25. März. Bei diesem EU-Gipfel in Rom würden "die 27 Staats- und Regierungschefs der EU geeint in Frieden und Freundschaft" anwesend sein. Dieses Ziel erreicht zu haben, sei für viele undenkbar gewesen, als die sechs Gründungsmitglieder der EU die Verträge von Rom unterzeichneten. Nun sei es an der Zeit, "mit Stolz über unser Erreichtes nachzudenken und uns an die Werte zu erinnern, die uns zusammenhalten".
"Neues Kapitel"
Der Rom-Gipfel müsse aber auch "der Start für ein neues Kapitel" sein. Es gebe wesentliche Herausforderungen, für die Sicherheit, den Wohlstand der Menschen, für die Rolle, die Europa in einer wachsenden multipolaren Welt spielen müsse. Ein vereintes Europa der 27 müsse sein eigenes Schicksal formen und eine Vision für die eigene Zukunft entwerfen.
Unabhängig davon, welche Entscheidung die 27 Staats- und Regierungschefs treffen werden, "sollten wir uns daran erinnern, dass Europa immer dann am besten und stärksten war, wenn es geeint, kühn und zuversichtlich" aufgetreten sei, gemeinsam die eigene Zukunft zu gestalten.
Österreich drittfriedlichstes Land
In dem "Weißbuch"wird unter anderem die Bedeutung des Friedens für die Europäische Union unterstrichen. Dabei wird auch auf die Ergebnisse des World Peace Index aus dem Jahr 2016 verwiesen. Darin rangiert Österreich als drittfriedlichstes Land in der Welt. Insgesamt 15 EU-Staaten befinden sich unter den 25 friedlichsten Staaten weltweit.
Dabei führt der Nicht-EU-Staat Island das Ranking an, gefolgt von Dänemark und Österreich auf Rang drei. Dann folgen Neuseeland, Portugal, Tschechien, die Schweiz, Kanada und Japan. Auf Rang zehn folgt Slowenien, danach kommen Finnland, Irland, Bhutan, Schweden, Australien und Deutschland auf Platz 16. Dahinter rangieren Norwegen, Belgien, Ungarn, Singapur, Niederlande, Polen, Mauritius, Slowakei und Spanien auf Rang 25.
70 Jahre Frieden
In der Einleitung zum Weißbuch wird auf zahlreiche Errungenschaften der EU in den vergangenen Jahrzehnten verwiesen. Vor allem der über 70 Jahre dauernde Frieden in der EU steht dabei an erster Stelle. Gleichzeitig wird auf den Bevölkerungsschwund in Europa verwiesen. 1900 habe Europa noch 25 Prozent der Weltbevölkerung ausgemacht, 1960 nur mehr elf Prozent und 2015 seien es lediglich sechs Prozent gewesen. Bis 2060 wird eine Abnahme auf dann nur mehr 4 Prozent vorhergesagt.
Euro verliert an Gewicht
Obwohl der Euro eine globale Währung sei, würden andere Währungen an Gewicht gewinnen. In einem"Währungskorb" habe der Euro von 33 Prozent 2015 auf 30 Prozent im laufenden Jahr abgenommen, der Dollar von 48 auf 43 Prozent verloren. Das britische Pfund sei von 12 auf 8 Prozent in diesem Vergleich gesunken.
Die EU wird auch der größte Geldgeber für Entwicklungs- und humanitäre Hilfe gewürdigt. Schließlich wird die Bedeutung der EU als eine der am für die Gesellschaft ausgeglichensten Regionen dargestellt.
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