Mehr als ein Drittel aller weiblichen Häftlinge in Japan ist über 65 Jahre alt. Viele sind freiwillig im Gefängnis, die Einsamkeit einer immer älter werdenden Gesellschaft hat sie dazu gebracht.
Für die 500 Häftlinge im Frauengefängnis Tochigi beginnt der Tag um 6.30 Uhr mit einem Glockenläuten. Um 7.10 Uhr gibt es Frühstück, zehn Minuten später als noch vor zwei Jahren. Um 7.40 Uhr geht es dann an die Arbeitsstationen - gemächlich.
Vieles am Gefängnisalltag hat sich zuletzt verändert, Häftlingen und Personal ist mehr Zeit eingeräumt worden. Die ist auch nötig, schließlich müssen die Wärter morgens Rollatoren bereitstellen, manche Gefangene mit dem Rollstuhl abholen oder sogar Inkontinenzeinlagen wechseln.
"Es fühlt sich inzwischen an, wie in einem Altersheim", sagt ein Mitarbeiter dem US-Sender CNN.
Immer mehr alte Frauen in Gefängnissen
Mehr als 100 der 500 inhaftierten Frauen in Tochigi sind älter als 65. Damit liegt die Haftanstalt im Norden Tokios sogar noch unter dem landesweiten Schnitt: In ganz Japan ist bereits mehr als ein Drittel der weiblichen Häftlinge im Pensionsfähigen Alter - viermal so viele wie vor zwanzig Jahren. Ein Phänomen, das japanische Medien bereits "Graue Kriminalität" nennen.
Fast alle alten Damen sind aufgrund kleinster Vergehen im Gefängnis, mehr als 80 Prozent wegen Ladendiebstahls. Um dafür eine Haftstrafe zu erhalten, muss man sich bemühen: Ladendiebe kommen normalerweise fünf Mal mit einer steigenden Geldstrafe davon, ehe sie ins Gefängnis müssen. Ein Beweis dafür, dass die Frauen freiwillig hier sind - aber warum?
Eine typische japanische Gefängniszelle, ausgestattet mit einem Futon-Bett und Tatami-Boden.
"Wäre ich finanziell stabil und hätte ein komfortables Leben gehabt, hätte ich es nicht getan", sagt eine 81-jährige Gefangene zu CNN. Die meisten Seniorinnen in Japan waren Hausfrauen und Mütter, dafür bekommen sie mickrige Pensionen von umgerechnet wenigen hundert Euro.
Als die Frau gemerkt hatte, dass sie mit ihrem Geld wieder nicht auskommen würde, ging sie in einen Supermarkt, um Gemüse zu stehlen - in dem Wissen, dass sie erwischt werden würde. "Ich wollte meiner Familie nicht zur Last fallen", sagt sie. "Aber es ist so schwer, allein zu sein."
Viele ältere Menschen in Japan leiden unter Einsamkeit. Vor allem Frauen sind betroffen - ihre Lebenserwartung liegt mit 87 Jahren sechs Jahre über jener japanischer Männer.
Viele Japaner sehen ihre Eltern nur ein- bis zweimal im Jahr
Japans Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Im Gegensatz zu anderen ostasiatischen Ländern ist die Beziehung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern nicht mehr so eng wie früher. Ziehen die Kinder in die Großstädte, werden meist Kollegen und Freunde zum engsten sozialen Umfeld, bis die Kinder eine eigene Familie gründen. Viele erwachsene Japaner sehen ihre Eltern nur ein- bis zweimal im Jahr.
Früher war es trotzdem üblich, die eigenen Eltern zu pflegen, sobald das notwendig wurde. Heute aber ist dank der sinkenden Geburtenrate der Großteil der Japaner alt, das Durchschnittsalter lag 2023 bei 49 Jahren, das wird weltweit nur von den Zwergstaaten Monaco und St. Helena übertroffen. In fünf Jahren dürfte jeder zweite Mensch in Japan über 65 sein.
Die Einsamkeit, das bestätigt auch die japanische Regierung seit Jahren, wurde so zu einer landesweiten Epidemie. Besonders bei Frauen: Sie werden mit 87 Jahren im Schnitt sechs Jahre älter als japanische Männer. Dabei lebt jede fünfte Pensionistin in Japan unterhalb der Armutsgrenze, im Rest der OSZE-Staaten sind es im Schnitt 14,2 Prozent.
Das Gefängnis bietet vor allem Gesellschaft
Das Gefängnis bietet den Seniorinnen alles, woran es ihnen im Alltag fehlt: Sie haben einen geregelten Tagesablauf, bekommen dreimal täglich warmes Essen, werden gebadet und von Ärzten untersucht. Vor allem aber haben sie Gesellschaft. Zu anderen Häftlingen, Wärtern und dem medizinischen Personal. Rund um die Uhr ist jemand da.
Japans Gefängnissystem basiert auf ständiger Beschäftigung. Vier Stunden Vormittags und vier Stunden Nachmittags müssen die Gefangenen arbeiten, oft an Werkbänken. Wer das nicht mehr kann, muss in der Wäscherei aushelfen. Für die ganz greisen oder sogar dementen Frauen bleibt immerhin die alte Kunst des Origami: Sie falten Figuren aus Papier, die anschließend auf Märkten verkauft werden.
Origami-Figuren sind in Japan sehr beliebt - und auch für alte und demente Häftlinge leicht zu falten.
Menschenrechtsorganisationen kritisieren das als Zwangsarbeit, schließlich erwirtschaften die Gefängnisse mit der Arbeit ihrer Häftlinge Profit. Den einsamen Frauen in Tochigi macht das nichts aus: "Manche sagen sogar, dass sie gerne zahlen würden, damit sie hier für immer leben können", sagt ein Wärter in dem CNN-Bericht.
Die Schande über eine Haftstrafe färbt auf Familien ab
In der extrem regelkonformen japanischen Gesellschaft tragen Ex-Häftlinge ihre verbüßte Gefängnisstrafe allerdings mit sich herum wie eine große Narbe. Die damit einhergehende Schande ist so groß, dass sie auf die gesamte Familie abfärben und deren Karrieren behindern kann.
Um ihre Angehörigen zu schützen, brechen viele Gefangene deshalb schon vorsorglich den Kontakt ab. Gegenüber dem deutschen Spiegel sagte eine 85-Jährige, sie hätte ihren Anwalt gebeten, ihren Kindern nicht zu sagen, wo sie sich befindet: "Wenn ich draußen bin, rufe ich sie vielleicht an und erzähle ihnen, wo ich die vergangenen Jahre war."
Nicht immer zeigen die Kinder Verständnis. Als die von CNN begleitete Frau ihren Sohn kontaktierte, schämte der sich so sehr, dass er sagte: "Ich wünschte, du würdest einfach verschwinden." Da war sie also wieder, die Einsamkeit, die Isolation, der Teufelskreis. Und so ging sie mit 81 Jahren wieder in den Supermarkt und wurde zur Wiederholungstäterin.
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