Zusperren, abwandern oder Suizid

Italiens Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise. Berlusconi will trotzdem Premier Letta stürzen.
50.000 Unternehmer mussten heuer aufgeben. Die Regierungskrise schürt neue Ängste.

Unternehmer, Industrielle und Bankiers sind angesichts der Regierungskrise alarmiert. Sie fürchten die verheerenden Wirtschaftsfolgen einer neuerlichen Instabilität, die nach einem möglichen Aus der Regierung von Premier Enrico Letta droht. Ob Letta das heute, Mittwoch, stattfindende Vertrauensvotum im Parlament besteht, kümmert Barmann Fabio wenig: Der 30-jährige Römer erwartet sich nichts mehr von der Politik. Er sorgt sich, ob er seinen Job in Bar Valle in der Nähe des Trevi-Brunnens behalten kann: „Den höchsten Preis zahlen immer nur die kleinen Leute.“

Allein in diesem Jahr mussten laut Gewerbeverband Confesercenti bereits 50.000 Geschäfte, Bars und Restaurants schließen. Besonders hart traf es dabei die Modebranche. Die Neueröffnung eines Ladens, der Verkäuferinnen sucht, gilt in diesen Zeiten als ein Wunder. Eine entsprechend lange Schlange drängte sich vor dem Kindermode-Shop „Tipinifini“ in Genua: 500 Frauen versuchten, einen der begehrten Jobs zu ergattern.

Ähnliche Szenen spielten sich vor ein paar Monaten vor McDonald’s-Filialen in Parma und im sizilianischen Gela ab. Während die Arbeitslosenquote in Gela traditionell sehr hoch war, ist seit fünf Jahren auch das norditalienische Parma von der Krise schwer getroffen. Die 170.000 Einwohner-Stadt war mit der weltbekannten Nahrungsmittelindustrie führendes Wirtschaftszentrum Norditaliens. Weltberühmte Köstlichkeiten wie Parmesankäse (Parmigiano Reggiano) und Parmaschinken stammen von dort. Auch Barilla-Nudeln wurden hier erzeugt. Unter den Arbeitsuchenden bei der Fast-Food-Kette, die befristete und flexible Teilzeitverträge anbot, waren viele Jungakademiker.

Arbeitslosigkeit auf Rekordhoch

Überhaupt sind es die Jungen, die unter der Krise am meisten leiden. Im August waren 40,1 Prozent der Italiener zwischen 15 und 24 Jahren weder in Ausbildung noch in Arbeit. So hoch war die Jugendarbeitslosigkeit noch nie seit 1977, dem Beginn der Aufzeichnungen. Die allgemeine Arbeitslosenrate erreichte mit 12,2 Prozent ebenfalls einen Höchststand. Neben den Jungen finden vor allem Frauen und ältere Arbeitnehmer keine Jobs.

Immer mehr Italiener müssen nicht nur auf schicke Kleidung, sondern auch auf Körperkult verzichten. Kundenflaute herrscht etwa im Fitnessstudio „Stardance“ in Rom. An ein derart schwaches Jahr kann sich Besitzer Mauro C. nicht erinnern: „Es kam noch nie vor, dass sich Ende September kaum jemand für Kurse eingeschrieben hat. Nur zwei Leute besuchten eine kostenlose Schnupperstunde.“

Die Gewerkschaften sahen sich nach der Sommerpause ebenfalls mit einem neuen Phänomen konfrontiert. Unternehmen nutzten die Ferien, um die Rollläden dichtzumachen. Als die 40 Arbeiter des Elektronikbauteile-Herstellers Firem in Modena aus dem Urlaub kamen, fanden sie das Eingangstor mit Ketten und Vorhangschlössern abgesperrt. Stillschweigend war die Produktion des Unternehmens nach Osteuropa ausgelagert worden. Der Firmenmanager rechtfertigte sich: „Die Lohnkosten in Polen und Rumänien sind viel geringer. Ich hatte drei Möglichkeiten: Entweder ich schließe die Firma, übersiedle oder gebe mir einen Kopfschuss.“ Tatsächlich ist die Selbstmordrate vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmern auffallend hoch. Generell stieg heuer die Selbstmordrate im ersten Quartal um 40 Prozent.

Daniele Fiore, der seit 1998 beim Mechanikbauteile-Hersteller Hydronic lift bei Mailand beschäftigt war, ist verzweifelt: „Wir sind 30 Arbeiter, viele sind mit 50 zu jung für die Pension, aber zu alt, um Arbeit zu finden.“ Gewerkschafter Jorge Torre: „Es wurde zum Unternehmersport, im Sommer vom Urlaub der Arbeiter zu profitieren, um heimlich und ohne Vorwarnung die Firma zu schließen.“

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