Italien: "Das Epidemie-Ausmaß wurde zu spät erkannt"
Bei 75.000 SARS-CoV-2-Infizierten und 7.500 Todesfällen stellt sich in Italien als von Covid-19 in Europa meistbetroffenem Land die Frage nach den Gründen dieser Entwicklung. "Am Anfang wurde die Massenverbreitung der Infektion zu spät erkannt", sagte der italienische Arzt und Epidemiologe Alessandro Pini - im Einsatz für "Ärzte ohne Grenzen" in der Lombardei - Mittwochnachmittag gegenüber der APA.
"Mitte Februar hat man in Norditalien die ersten Fälle bemerkt. Doch da wurde noch intensiv nach den Kontakten zum Ausland gesucht. Dabei wurde übersehen, dass sich SARS-CoV-2 in der Lombardei schon weit außerhalb von Personen ausgebreitet hatte, die beispielsweise aus China nach Italien gekommen waren. Das Epidemie-Ausmaß wurde zu spät erkannt", sagte Pini.
"Ich arbeite gerade in Lodi in der Lombardei. Hier unterstützen wir die Arbeit in den Spitälern, bei niedergelassenen Ärzten und helfen in der Versorgung sozial Schwacher, zum Beispiel Obdachloser. Es geht besonders um die Verhütung von weiteren Infektionen."
"Das alles kann das Bild verschieben"
In Italien insgesamt unterstützt "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) drei Krankenhäuser in der Provinz Lodi mit Spezialisten und Pflegekräften bei der Infektionskontrolle sowie bei der Patientenversorgung. Außerhalb der Krankenhäuser begannen Teams der Organisation mit Aktivitäten zur Unterstützung von Hausärzten sowie medizinischem Personal, das Menschen in der häuslichen Isolation hilft, sowie dem Personal eines Altenpflegeheims, in dem Fälle entdeckt wurden.
Für Europa sticht besonders die hohe Zahl der Todesfälle durch Covid-19 in Italien hervor. Pini: "Die Zahlen aus Österreich kenne ich nicht. Aber ich habe mir die Daten des Robert-Koch-Instituts (Berlin; Anm.) für Deutschland in einer englischen Übersetzung angesehen. In Deutschland liegt das Durchschnittsalter der SARS-CoV-2-Infizierten bei 47 Jahren. In Italien beträgt es im Durchschnitt 63 Jahre."
Das unterstützt die These, dass die Covid-19-Sterblichkeit in Italien vor allem etwas mit der Altersstruktur der Bevölkerung zu tun hat. Das haben auch Vergleichsuntersuchungen römischer Wissenschafter mit den Daten aus China ergeben.
Es gebe auch immer einen Bias bei Ländervergleichen, betonte Pini: "Bei uns sind am Anfang auch viele Symptomlose getestet worden. Dann hat man auf die schwerer Kranken, auf die Spitalspatienten etc. umgestellt. Das alles kann das Bild verschieben."
Verhältnisse wie in Lombardei nicht wünschenswert
Auch wenn sich in den vergangenen Tagen in Italien eventuell eine positive Tendenz abgezeichnet haben könnte, Pini glaubt nicht an ein schnelles Ende der Epidemie: "Wir werden das wohl das ganze Jahr hart und konzentriert arbeiten müssen. Wir dürfen uns nicht ablenken lassen im Bemühen, die Weiterverbreitung von zum minimieren. Wir haben noch eine Riesenaufgabe vor uns." Wenn sich voerst einmal die Zahl der Neuinfektionen weniger rasch erhöhe, sei das nur ein erster, kleiner Erfolg, meint der Epidemiologe.
Ein Positivum gebe es aber, wie der Experte und MSF-Mitarbeiter erklärte: "Wir haben in Süditalien deutlich weniger Covid-19-Fälle als in Norditalien. Als man in der Lombardei dieses Riesenproblem erkannte, haben die Italiener insgesamt verstanden, dass man sich an die erlassenen Maßnahmen halten muss." Das hätte dazu geführt, dass Süditalien weiterhin weniger von SARS-CoV-2 betroffen sei.
Pini abschließend: "Ich wünsche Ihnen und Österreich viel Glück. Ich hoffe, Sie können in Ihrem Land Covid-19 einigermaßen unter Kontrolle halten." Eine Situation wie in der Lombardei sei alles andere als wünschenswert.
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