Israels vergebliche Suche nach einem Alltag, Raketen sind die neue Routine
Ein traumatisiertes Land sehnt sich zurück nach Normalität. Wie Bauer Avida, dem die Hamas ein Bein wegschoss. Er steht bereits wieder auf dem Acker.
02.12.23, 18:00
Aus Israel Norbert Jessen
Israel von Süd nach Nord und wieder zurück: Ein Land, das in weiten Teilen seinen Alltag verräumt hat. Fast eine halbe Million Menschen wurde aus den Grenzregionen evakuiert. Viele andere sind zusätzlich ohne offizielle Anweisung bei Verwandten oder Bekannten untergekommen.
Doch auch im Inneren des Landes sollen die Menschen in der Nähe von Schutzräumen bleiben. Kriegszustand ist nichts Neues für Israel. Raketen sind Routine.
Nach dem blutigen Terrorüberfall auf Israels Süden am 7. Oktober fehlen nicht nur die Geiseln, die nach Gaza verschleppt wurden. Es fehlt auch das alte Sicherheitsgefühl, die absolute Gewissheit, dass der Alltag zurückkehren wird.
Fast die Hälfte der Häuser im Kibbuz Beeri sind nur noch ausgebrannte Ruinen. Von 1.200 Bewohnern wurden 130 jeden Alters ermordet. Zerstückelt, verbrannt, vergewaltigt. An die 30 Kinder, Frauen und Männer wurden verschleppt.
In den Ruinen arbeiten Assaf Perez und sein Team. Erfahrene Archäologen, die mit ihren Spezialmethoden noch die letzten winzigen körperlichen Überreste aussieben. „Alles kann helfen, die zur Unkenntlichkeit Gemarterten doch noch zu identifizieren. Vor allem Zähne, aber auch Schmuck.“
Beeri ist wie die benachbarten Dörfer voll mit Soldaten. Hier ruhen sie nach den Kämpfen im Gazastreifen oder bereiten sich auf den nächsten Fronteinsatz vor.
Die Überlebenden
Die Überlebenden der Bewohner Beeris sind in einem Hotel am Toten Meer untergebracht. Den Eingang bewacht ein Kibbuz-Mitglied. Einlass nur nach Rücksprache. Chico Becher (80) erzählt von seinem Sohn Avida. Der hat am 7. Oktober ein Bein verloren. Die 13-jährige Hadar stillte die Blutung und rettete so ihren Vater. Die Anleitungen zur Ersten Hilfe kamen über Handy. Per Telefon leitete sie auch die Soldaten zum Haus, in dem sie über 17 Stunden gefangen waren.
Chico ist sich nicht sicher, ob er nach Beeri zurückkehrt. „Ich gehe nur, wenn die Hamas im Gazastreifen wirklich voll ausgeschaltet wird.“ Sein Sohn Avida hingegen hat seine Reha unterbrochen. Zwei Tage war er in Beeri. Letzte Woche war die Aussaat des Getreides fällig. „Mit einem Bein oder zwei. Das musste sein.“
Zu wenige Arbeiter
Auf dem Weg nach Norden geht es vorbei an einer Werkhalle. Hier werden Kartoffeln sortiert und verpackt. „Wir bewältigen nur 40 Prozent unserer Vorkriegsproduktion“, erklärt der Schichtleiter Aviram Buniel, „die Arbeiter fehlen. Doch einige unserer thailändischen Gastarbeiter sind geblieben, andere kehrten schon kurz nach ihrer Flucht wieder zurück.“
Thann aus Kanchanaburi gehört zu den Arbeitern, die blieben. Den Überfall überlebte er nur knapp. Aus seinem Versteck unter dem Dach filmte er die Angreifer, die den Wächter am Tor erschossen und dann die Anlage durchkämmten. „Ich hatte Todesangst, drei Kolleginnen haben sie entführt.“
Im Süden zeigt die Armee massiv Präsenz.
Panzer, wohin das Auge blickt. Im Norden hält sie sich gut getarnt zurück. Das bunte Campingzelt am Straßenrand vor Kfar Giladi gehört aber nicht zur Tarnung. Ein Reservesoldat hat es vorsorglich mitgebracht. Die Zelte der Armee bieten oft keinen Schutz vor dem Winterregen.
Auf einem leeren Parkplatz im geräumten Städtchen Schelomi übernimmt ein Reservist drei Schutzwesten. Von seinem Schwager, der sie aus Tel Aviv gebracht hat. „Eine gehört mir privat, zwei sind von Freunden,“ erklärt Tomer. „Die sind besser als die, die unserer Einheit zugeteilt wurden.“
Leere Hotels
Nahariya liegt nur zehn Kilometer von der Grenze zum Libanon entfernt. Wie der ganze israelische Norden mit seiner Toskana-Landschaft und den Heiligen Stätten ist auch dieser Strandort vom Tourismus abhängig. Hier geht der Alltag weiter, dabei können auch hier jederzeit Raketen einschlagen. Die Cafés sind nicht gerade voll besetzt. Einige neue Hotels wurden hier in den letzten Jahren gebaut. Jetzt stehen sie leer.
„Tourismus ist eine empfindliche Branche“, seufzt Olga am Empfang des Casa Hotels, „es wird Jahre dauern, bis wir uns wieder erholt haben“. Sie klagt über die Untätigkeit der Regierung. „Wo bleiben denn die Überbrückungsgelder für die Wirtschaft?“
Nicht alle haben die Hartnäckigkeit von Landwirt Avida in Beeri. Doch alle wollen zurück in den gewohnten Alltag, der ja in Israel niemals leicht war. Die Hoffnung will sich niemand nehmen lassen. Aber Hoffnung worauf?
Ein Land widersprechender Gefühle. Die Angehörige einer nicht befreiten Geisel brachte es nach der ersten Geiselfreilassung auf den Punkt: „Ich schaue mit der freudigsten Trauer zu, die sich denken lässt und weiß, dass die Befreiten dabei die traurigste Freude fühlen.“
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