Trotz Geiselübergabe hat der Nervenkrieg in Gaza keine Pause

"Bis ich sie nicht in die Arme schließen kann, glaube ich nicht, dass sie frei ist. Der Hamas glaube ich einfach nichts“, sagt Carmel Idan.
Carmel ist der Großvater von Avigail. Die Vierjährige wurde beim blutigen Überfall der Hamas-Terroristen am 7. Oktober mit weiteren 241 israelischen und ausländischen Geiseln verschleppt, mutterseelenallein. Ihre Mutter wurde vor ihren Augen von Hamas-Terroristen ermordet. Ihr Vater starb beim Versuch, die Angreifer abzuwehren. "Avigail weiß noch gar nicht, dass sie Vollwaise ist."
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Nicht auf der Liste
Der Pessimismus des Großvaters ist berechtigt. Das kleine Mädchen steht nicht auf der Liste jener 13 Kinder und Mütter, die am Freitag in einem ersten Geiselaustausch freigelassen wurden, am Nachmittag über die Grenze zu Ägypten und mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes. Im Gegenzug kommen einige Dutzend verurteilter palästinensischer Terroristen aus israelischen Gefängnissen frei.
Bis Mittwoch sind weitere Freilassungen mit täglich je zehn Geiseln und etwa 50 Häftlingen abgemacht. Arabische Medien berichten von bereits laufenden Verhandlungen über weitere Austauschrunden und Verlängerungen der Feuerpause. Wieder mit Hilfe Katars, Ägyptens und der USA.
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Ein Indiz für weitere Zugeständnisse Israels zeigte sich bereits vor dem Oberstem Gericht: Ultrarechte Organisationen hatten dort gegen die Freilassung Dutzender verurteilter palästinensischer Terroristen Widerspruch eingelegt. Die Eingaben wurden abgeschmettert. Israels Regierung ließ dabei aber vorsorglich eine Namensliste mehrerer Hundert Häftlinge juristisch absegnen – das soll ihr wohl weitere Beschwerden über zukünftige Deals ersparen.
Neben der Feuerpause an den Austauschtagen gibt es noch eine Gegenleistung Israels. Zu verabredeten Zeiten wird die Armee Aufklärungsflüge über dem Gazastreifen einstellen. Eine Maßnahme, auf die Hamas unter keinen Umständen verzichten wollte. Letztlich braucht die Terrororganisation die Kampfpause wie die Luft zum Atmen.
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Trotzdem wird die Hamas wohl jeden weiteren Austauschtag für einen Nervenkrieg nutzen, mit unerwarteten Verzögerungen oder Fake News. Militärische Kampfpause, aber keine Pause im psychologischen Krieg gegen die Angehörigen der Geiseln.
So kam es schon am Freitagmorgen kurz nach Beginn der Feuerpause wieder zu kurzem Beschuss israelischer Grenzdörfer. Das ist die "obligatorische Verspätung", wie sie den Israelis schon aus früheren solcher Deals kennen. Die Zivilbevölkerung ist darum auch in der Kampfpause angehalten, sich in Bunkernähe aufzuhalten.

Israelische Soldaten bei der Rückkehr aus dem Gazastreifen – die Freude über die Feuerpause ist ihnen anzusehen
Geiseln gehen vor
Auch militärisch wird die Hamas die Kampfpause nutzen. Die Kämpfe haben große Teile ihrer unterirdischen Kampfzellen abgeschnitten. "Sie müssen aus ihren Löchern kriechen, um sich neu aufzustellen, zerstörte Kommunikationslinien auszubessern und Nachschub einzuholen", sagen Militärexperten. Die Einstellung der Drohnenflüge soll die israelische Armee daran hindern, versteckte Tunneleinstiege und Truppenbewegungen der Hamas aufzuspüren. Trotzdem akzeptierten Armee und Geheimdienste den Austausch. Geiselfreilassung kommt vor Kampfvorteil.
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Die Zeit braucht die Hamas aber auch, um jene Geiseln zu finden, die nicht in ihrer Hand sind. Einige hält der Islamische Dschihad gefangen, der auch im Gazastreifen aktiv ist. Er hat seine eigenen Interessen und wird den Alleinvertretungsanspruch der Hamas wohl nicht akzeptieren – seine Geiseln wird sich der Dschihad nicht einfach nehmen lassen. Selbiges Schicksal erwartet jene Menschen, die in der Hand anderer Clans in Gaza sind.

Bewohner in der Enklave suchen in ihre zerstörten Häuser auf
International wird demnächst wohl die Ausweitung der Feuerpause in einen Waffenstillstand gefordert werden. Schließen sich die USA da an, wird Israel langfristig nicht nein sagen können. "Für Israels Regierung wäre dies nach dem Versagen am 7. Oktober eine weitere Niederlage", schrieb die Zeitung Maariv am Donnerstag.
Sie meldete auch, dass Premier Netanjahu einen Deal mit der Staatsanwaltschaft anpeilen soll. Wird das gegen ihn laufende Strafverfahren wegen Korruption eingestellt, könnte er dann nach einem erzwungenen vorzeitigen Kampfende einfach zurücktreten.
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