Jeden Tag eine Zahl
„Sein Verbrechen war, auf ein Musikfestival zu gehen“, sagt Goldberg. Die 54-jährige Lehrerin ist eines der international bekanntesten Gesichter jener Familien, die nach wie vor um den Verbleib ihrer Liebsten bangen. Die zarte, ruhig und kontrolliert wirkende Frau reiste bereits um die halbe Welt, sprach vor den Vereinten Nationen ebenso wie vor dem Papst, um ihre und die Geschichte ihres Sohnes zu erzählen – alles in der Hoffnung, dass es irgendwie zu seiner Rückkehr nach Hause beitragen könnte.
An ihrer Bluse trägt Goldberg einen kleinen Aufkleber mit der Zahl 73. „Vor 73 Tagen hatte ich das letzte Mal ein Lebenszeichen von meinem Sohn Hersh. Jeden Tag stehe ich am Morgen auf und das erste, was ich mache, ist mir eine neue Nummer anzukleben“, sagt sie. Neben Rachel Goldberg sitzt ihr Mann Jon Polin. Die meiste Zeit spricht sie, nur manchmal hakt er ein, es scheint, als fiele es ihr leichter.
Auf die Frage, wie es ihr gehe, wie es sich anfühle, diese unvorstellbare Geschichte vor Journalisten zu erzählen, reagiert Goldberg ebenso gefasst wie auf die feuchten Augen, die bei manchen Anwesenden während des Gesprächs und ihren Erzählungen erkennbar werden. „Wir müssen funktionieren, weil wir ihn retten müssen“, sagt die Mutter. Die Eltern des 23-jährigen Hersh, der vor seiner Entführung gerne reiste und ausgewiesener Fan des deutschen Fußballklubs Werder Bremen ist, sind sich sicher, dass er noch lebt und eines Tages zurückkommen wird. „Ich bin davon überzeugt, weil ich davon überzeugt sein muss“, sagt Goldberg, die täglich mehrmals vor Medien, politischen Vertretern oder anderen Personen des öffentlichen Lebens über ihren Sohn spricht. Es helfe ihr.
➤ Mehr lesen: Die aktuellsten Entwicklungen im Nahen Osten in unserem Liveticker
Schlimmer seien die Stunden, in denen sie mit niemandem darüber reden könne. Zum Schlafen nehmen Goldberg und Polin mittlerweile Medikamente, gearbeitet haben sie seit dem Terrorangriff, bei dem sie ihren Sohn an die Hamas verloren, nicht mehr. Das Leben drehe sich nun einzig und allein darum, Hersh zurückzubringen.
Was sie sich von der israelischen Regierung wünschen? „Eine Waffenpause, wie jene, bei der bereits zahlreiche Geiseln freigekommen sind, das würden wir uns wünschen“, sagt die 54-Jährige auf Nachfrage des KURIER. Man verstehe aber auch, dass die aktuelle Situation, der Krieg, gleichzeitig die vielen Entführten, eine Herausforderung für „wahrscheinlich jede Regierung dieser Welt darstellen würde, die nicht einfach zu meistern ist“, fügt der Vater hinzu.
Groll gegen die Menschen im Gazastreifen hegen die beiden keinen. „Ich fühle für jedes einzelne Schicksal und Leben“, sagt Goldberg, die sich auch für eine Zwei-Staaten-Lösung ausspricht, im Allgemeinen aber als eher unpolitisch beschreibt. „Ich bin nur eine Mutter, eine Mutter, die ihr Kind zurück will.“
➤ Mehr lesen: "Brauchen realistische Kriegsziele": Kritik an Netanjahu nimmt zu
Arm abgetrennt
Sie sei auch mit bereits freigelassenen Geiseln in Kontakt gewesen, über den Verbleib ihres Sohnes, dem im Zuge des Terroranschlags kurz vor der Entführung ein Arm durch eine Bombe abgetrennt wurde, konnte ihr aber niemand etwas berichten. Dass ihr Sohn überhaupt am Leben sein könnte, führen die Eltern auf ein Video zurück, das während der Entführung entstanden ist und zeigt, wie Hersh von Hamas-Terroristen gemeinsam mit weiteren Personen auf einen Pick-up-Truck gezwungen wird. Jon Polin zeigt es bereitwillig her, man kann erkennen, dass der 23-Jährige verletzt, aber grundsätzlich nicht in kritischem Zustand ist. Die Eltern hoffen, dass man ihn nach der Verschleppung möglichst rasch in ein Krankenhaus in Gaza gebracht habe – wissen tun sie es nicht.
Aufgeben ist für Goldberg keine Option, sie will, dass so viele Menschen wie möglich von ihrem Sohn und seinem Schicksal erfahren. Denn, so ihre Hoffnung, vielleicht hört irgendwann die „richtige Person“ von Hersh, „jemand, der jemanden kennt, der jemanden kennt – und etwas über seinen Verbleib weiß“.
Deswegen werde sie auch nicht müde, mit Journalisten zu sprechen. Rachel Goldberg glaubt fest daran, dass einer der zahlreichen Berichte über ihren Sohn zum Erfolg führen wird. „Einer oder eine von euch wird ihn retten.“
Kommentare