"Lass ihn verbluten, er ist ungläubig"

Wie ein Schiit (23) dem Blutbad der Terroristen des "Islamischen Staates" entkam.

Bei den ersten Interviews waren die tiefen Abdrücke der Handschellen noch erkennbar. Mittlerweile sind sie von Ali Hussein Kadhims Handgelenken verschwunden. Der Schiit war einer von Hunderten Soldaten, die am 12. Juni von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in der Stadt Tikrit gefangen genommen wurden. Kadhim hat überlebt.

In einem aktuellen Bericht kommt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zum Schluss, dass bei Massenexekutionen in Tikrit 560 und 770 Iraker getötet wurden. Auswertungen von Zeugenaussagen und Videos würden diese erschütternden Zahlen bestätigen. Es sei aber wahrscheinlich, dass die Zahl noch steigen werde. Laufend tauche weiteres Beweismaterial auf. Der IS selbst spricht von 1700 exekutierten schiitischen Soldaten.

Die Gefangenen sollten sich keine Sorgen machen, hieß es anfangs seitens der IS-Kämpfer. "Sie ließen uns im Glauben, sicher zu sein, aber sie logen", sagt der 23-jährige Soldat. In der Heimatstadt des ehemaligen irakischen Machthabers Saddam Hussein wurden die Menschen nach Glaubensrichtungen getrennt. Sunniten war es erlaubt, ihren militärischen Staatsdienst zu bereuen – Schiiten, wie Kadhim, mussten sich in einer Linie aufstellen, sie waren dem Tode geweiht, so der 23-Jährige gegenüber der New York Times.

"Tod vorgetäuscht"

Er war Nummer vier in der Reihe, und als IS-Kämpfer den Ersten erschossen, habe er das Blut des Soldaten in seinem Gesicht gespürt. Ein Dschihadist habe eine Kamera bei sich gehabt und alles gefilmt, erinnert sich Kadhim und zeigt auf einen Mann: "Das bin ich", sagt der Iraker, als er sich das Video mit Reportern der New York Times ansah.

Nachdem auch sein Kollege neben ihm getötet wurde, habe der junge Soldat gespürt, wie eine Kugel seinen Kopf gestreift hat. Er ließ sich zu Boden fallen. "Ich habe meinen Tod vorgetäuscht und bin einfach liegen geblieben", sagt er. Wenige Augenblicke später, so Kadhim, sei einer der radikal-sunnitischen Kämpfer zu den Leichen gegangen und habe einen Mann gesehen, der noch geatmet habe. Er habe dann seine Waffe auf den Verwundeten gerichtet. "Lass ihn leiden. Er ist ein ungläubiger Schiit. Lass ihn verbluten", habe ein anderer Kämpfer gerufen.

Zurück bei seiner Familie im Süden des Iraks erzählt Kadhim, dass er vier Stunden gewartet hat, bis er vom Hinrichtungsort zum nahen Ufer des Flusses Tigris geflohen sei. Es sei da bereits dunkel gewesen, und die IS-Kämpfer hätten den Ort der Massenexekution verlassen.

Sunnitische Hilfe für einen Schiiten

Auf seiner Flucht fand er Unterschlupf bei einer sunnitischen Familie, wo er nach Insekten und Pflanzen seine erste warme Mahlzeit seit Tagen bekam. Sein nächster Halt war die Stadt Al Alam, die Heimat des sunnitischen Scheichs Khamis al-Jubouri. Zwei Wochen später gelang es dem Scheich, Kadhim nach Erbil zu bringen, wo bereits sein Onkel auf ihn wartete, um ihn abzuholen.

Er habe einen dichten Bart gehabt und viel an Gewicht verloren, sagt Kadhim. "Meine Tochter hat mich nicht erkannt und lief davon." Ein Offizier der irakischen Armee gab dem Überlebenden nach dessen Augenzeugenbericht 430 Dollar, etwa die Hälfte des Gehalts, das er als Soldat verdiente – ein Job, in den er nie wieder zurückkehren möchte. "Jetzt bin ich arbeitslos", sagt er. "Ich möchte mich nur noch um meinen Obstgarten kümmern."

Kommentare