Iran-Experte: "Das alte System in der Islamischen Republik liegt im Sterben"

Im Juni griffen Israel und die USA Irans Atomprogramm an. Im Bild: Ein Graffiti in Tel Aviv.
Ein von der Bevölkerung verhasstes Regime, außenpolitisch isoliert und von UN-Atomsanktionen weiter unter Druck gesetzt: Drei Jahre nach dem Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini in Gewahrsam der Sittenpolizei erlebt das Mullah-Regime zwar keine Massenproteste mehr. Doch die revolutionäre Bewegung im Iran ist weiter im Gang, sagt der Politologe Ali Fathollah-Nejad im KURIER-Interview.
KURIER: Wie stabil ist das Regime in Teheran noch?
Ali Fathollah-Nejad: Es handelt sich um eine fragile Stabilität. Das Regime in Iran war in den letzten Jahren immer in der Lage, landesweite Proteste niederzuschlagen. Sodass es heute, drei Jahre nach der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung, noch im Sattel sitzt. Der langfristige revolutionäre Prozess – der in meinen Augen mit neuartigen Protesten 2018 begann – geht dennoch weiter. Die strukturellen Krisen, und nunmehr eine Wasser- und Stromknappheit sowie eine Wirtschaftskrise, vertiefen sich zunehmend, und es gibt weiterhin sporadische Proteste inmitten weitreichender Unzufriedenheit mit den Machthabern.
Das Regime versucht, Druck aus dem Kessel zu nehmen, damit dieser nicht explodiert. So sehen wir beispielsweise Bilder von Open-Air-Konzerten in Iran mit gemischtgeschlechtlichem Publikum, bei denen Frauen sich so kleiden wie hier. Sie nehmen sich diese Freiheiten, und der Staat scheint nicht massiv dagegen durchzugreifen. Insgesamt muss man Regimestabilität in Iran mit großer Vorsicht genießen. Denn: Wie stabil kann ein Regime überhaupt sein, das vom Feind, Israel, geheimdienstlich infiltriert ist?
Zwölftagekrieg: Im Juni hat Israel mit Unterstützung Trumps zentrale Einrichtungen von Irans Atomprogramm bombardiert. Davor hatten die USA, die 2018 aus dem Atomabkommen ausgestiegen waren, fast zwei Monate lang mit Teheran über das Nuklearprogramm verhandelt – ohne Durchbruch.
UN-Sanktionen: Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben am 28. August den sogenannten Snapback-Mechanismus ausgelöst, mit dem die UN-Sanktionen gegen den Iran binnen 30 Tagen wieder eingesetzt werden. Die Verhandlungsfrist endet am Sonntag um 2 Uhr MESZ. Bis Samstagabend gab es keine Einigung.
Wo liegt mittlerweile das Machtzentrum der Islamischen Republik?
Traditionellerweise lag es beim Obersten Führer Ali Khamenei und seinem Büro sowie den Islamischen Revolutionsgarden. Mit dem Zwölftagekrieg gegen Israel im Juni hat jedoch die Post-Khamenei-Ära begonnen. Er hat sich aus Angst im Bunker verschanzt, dazu kommt seine gesundheitliche Verfassung, sodass Khamenei nicht mehr die zentrale Figur ist, die er jahrzehntelang war. Es gibt also durchaus Veränderungen innerhalb des Machtzentrums, aber es ist unklar, wer, wenn überhaupt, zentrale Entscheidungen trifft. Auch bezüglich seiner Nachfolge gibt es keine Figur, die sehr prominent herausstechen würde.
Wie steht es um die Opposition im Iran?
Die Herausentwicklung einer Opposition im Inland ist aufgrund der Repressionen natürlich äußerst delikat. Anlässlich des dritten Jahrestags der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung haben über zwanzig zivilgesellschaftliche Organisationen, von Lehrer- und Ölindustrie-Arbeiter-Räte bis hin zu Umwelt- und Kulturvereinen, ein Statement veröffentlicht, in dem sie sich auf die Forderungen dieser revolutionären Bewegung besinnen. Es geht kurzum um eine radikale soziale, wirtschaftliche und politische Demokratisierung. So gibt es zwar diesen revolutionären Esprit noch, aber keine wahrhafte Organisation und Führung im Inneren des Landes, die diese Forderungen in eine politische, ökonomische Vision jenseits der Islamischen Republik übersetzen kann.
Die vom Mullah-Regime angeführte „Achse des Widerstands“ wurde stark geschwächt. Wird das auch im Iran selbst so wahrgenommen?
Auf jeden Fall. Die Regime-Propaganda allerdings suggeriert, dass die „Achse des Widerstands“ mehr oder weniger intakt wäre, aber das ist natürlich nicht der Fall. Im Zwölftagekrieg stand der Iran nicht zuletzt deswegen ziemlich allein gegen Israel da. Die Islamische Republik Iran ist – wie ich bereits in meinem Buch formuliere – auch regional zu einem Kaiser ohne Kleider geworden.
Und wie sieht das die iranische Bevölkerung?
Die Großmachtambitionen der Islamischen Republik Iran werden von der Bevölkerung seit Jahren äußerst kritisch, wenn nicht gar ablehnend gesehen. Es gab zurückliegend bis zur Grünen Bewegung von 2009 immer wieder Protestslogans, die die Ablehnung gegenüber dieser regionalen Abenteuertum – im Irak, in Syrien, im Libanon, in Palästina – zum Ausdruck brachten. Diese Politik wird als etwas gesehen, das den Interessen der Mehrheit der iranischen Bevölkerung zuwiderläuft.
Welche Auswirkungen haben die UN-Sanktionen auf das Regime und die ohnehin desolate Wirtschaft im Land?
Es gibt Befürchtungen seitens der Machtelite ob der Wiedereinsetzung der UN-Sanktionen, weil man befürchtet, dass die durch eine Schattenflotte organisierten Öl-Exporte unterminiert werden. Beispielsweise, weil die Möglichkeit bestünde, iranische Schiffe zu inspizieren. Ein jüngster Bericht der iranischen Handelskammer zeigt zudem, dass wir es im Best-Case-Szenario mit einer Inflationsrate von 60 Prozent zu tun haben werden. Im Falle von Snapback (der Wiedereinsetzung der UN-Sanktionen bis 2015, Anm.) wären es 90 Prozent.
Dennoch war das Regime in den Verhandlungen zu keinerlei Konzessionen bereit, etwa Kooperation mit der Atomenergiebehörde.
Ja, das stimmt und dies zieht eine Reihe von Fragen nach sich. Eine davon ist, ob es innerhalb der Machtelite des Landes Überlegungen gibt, dass eine Verarmung der Bevölkerung regimestabilisierend wirken könnte. Oder ob man in etwas hineingeschlittert ist, weil man keinen Hebel mehr hatte wie in der Vergangenheit: die sogenannte Strategie der nuklearen Eskalation, also das Hochfahren des Atomprogramms, oder mithilfe der „Achse des Widerstands“, also des Netzwerks der Milizen.
Gleichzeitig aber gibt es die Befürchtung, dass die iranische Bevölkerung im Zuge der verschlechterten wirtschaftlichen Situation nach der Wiedereinsetzung der UN-Sanktionen in ein, zwei Jahren in eine andere Phase eintritt, in der sie alles daran setzt, das Regime loszuwerden. Es herrscht also insgesamt große strategische Ratlosigkeit in Teheran.
Der deutsch-iranische Politologe Ali Fathollah-Nejad ist Gründer und Direktor des Center for Middle East and Global Order. Er lehrt zudem Nahost-Politik und internationale Sicherheit an der Hertie School in Berlin und unterrichtete zuvor an Universitäten in Prag, Tübingen, der FU Berlin und in London.
Zuletzt erschien von ihm "Iran – Wie der Westen seine Werte und Interessen verrät" im Aufbau Verlag (456 Seiten, 22 Euro)
Wie würden sich die Streitkräfte in dem Fall verhalten?
Das ist natürlich die große Frage. Die Revolutionsgarden sind auch kein Monolith. Es gibt die unteren Ränge, die ebenfalls unter den horrenden Inflationsraten leiden. Wie lange werden sie also den nächsten landesweiten Aufstand zugunsten der oligarchischen Generäle zu retten versuchen? Und wie positioniert sich eigentlich die zweite Streitkraft Irans, die reguläre Armee, die weniger vom System profitiert und weniger ideologisiert ist?
Insgesamt haben wir es also mit einer Situation zu tun, in der das alte System in der Islamischen Republik seit Jahren im Sterben liegt, aber noch nichts Neues im Entstehen ist. Dieser Prozess hat sich nach dem Zwölftagekrieg beschleunigt. Außerdem beobachten wir, dass staatliche Institutionen zunehmend ausgehöhlt werden.
Hat das Regime in den Atomverhandlungen sonst keine Hebel mehr?
Natürlich gibt es noch andere Drohgebärden der iranischen Seite, unter anderem, dass man aus dem Nichtverbreitungsvertrag (von Kernwaffen, Anm.) aussteigt oder dass man die Meerenge von Hormus schließt. Solche Drohgebärden sind aber mit großen Kosten verbunden, sodass es unklar ist, ob der Iran jemals diese umsetzt.
Sie haben in der Vergangenheit Kritik an der Zögerlichkeit der Europäer im Bezug auf Sanktionen und die Iran-Politik geübt.
Inzwischen sind wir in einer neuen Situation. Die Europäer haben bei den Snapback-Sanktionen keinen Rückzieher gemacht. Es gibt eine große Frustration über die iranische Unnachgiebigkeit auf vielen Ebenen. Die Frage ist, ob das Regime im Iran nach wie vor in der Lage sein wird, Sanktionen zu umgehen, aber es wird ungemein schwieriger. Nebst der bereits erwähnten Ölverkäufe, kommen durch die UN-Sanktionen die Iraner schwieriger an Waffen. Doch die diplomatische Tür ist trotz „Snapback“ nicht verriegelt. Ob jedoch Teheran die vor allem von den USA geförderten, weitreichenden Konzessionen in Bezug auf das Atom- und Raketenprogramm nachkommen wird, bleibt derzeit unklar.
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